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Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders

Titel: Tom Thorne 02 - Die Tränen des Mörders
Autoren: Mark Billingham
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Risiko eingehen, sie zu verlieren. Er würde sich Schokolade besorgen, wenn alles vorbei war. Bis dahin wäre er halb verhungert.
    Sie bogen von der Hauptstraße in eine gut beleuchtete, doch ruhige Seitenstraße ein, und sein Atem ging stoßweise, als er sah, wie sie in ihre Manteltasche nach dem Schlüssel griff. Er beschleunigte sein Tempo etwas. Er konnte hören, wie sie über Toast und Tee sprachen und darüber, ins Bett zu gehen. Er konnte ihnen die Freude darüber ansehen, zu Hause zu sein.
    Seine Hand glitt in seine Tasche, dabei blickte er sich um, ob ihn jemand beobachtete.
    Hoffentlich war es keine Wohnung. Besser, er hatte seine Ruhe. Vielleicht hatte er ja Glück.
    Ihr Schlüssel glitt ins Schloss, und seine Hand legte sich auf ihren Mund. Der erste Impuls war, laut zu schreien, doch Nicklin drückte ihr das Messer in den Rücken, und mit dem Schmerz kehrte die Vernunft zurück. Sie wandte sich nicht um, um ihn anzusehen.
    »Gehen wir rein.«
    Sie spürt den Schweiß seiner Hand, die Pisse, die ihre Beine hinunterläuft, öffnet die Tür. Ihre Hand flattert verzweifelt, fasst nach unten auf der Suche nach der Person, die sie liebt. Dem einzigen Menschen, der ihr am Herzen liegt.
    Ihrem Kind.
    »Bitte …«
    Seine Hand bringt ihre Stimme zum Verstummen. Das Wort geht unter. Er schiebt sie und den Jungen durch die Tür, folgt ihnen und schlägt die Tür hinter sich zu.
    Der Kleine in dem blauen Anorak klammert sich noch immer an sein Bilderbuch. Er blickt hoch zu dem Fremden. Seine Augen sind so dunkel wie die seiner Mutter, und sein Mund formt ein kleines, unendlich verwirrtes » O«.

Erstes Kapitel
    Es war morgens, kurz nach halb zehn. Der erste graue Montag im Dezember. Vom dritten Stockwerk des Becke House blickte Tom Thorne hinüber zum Hendon-Komplex, einem Monument aus aufgeblähter Selbstzufriedenheit. Das Letzte, was er gerade wollte, war klar zu denken.
    Unglücklicherweise tat er genau das. Das vor ihm liegende Material ordnen und alles in sich aufnehmen. Wobei er jedes Detail, ohne sich darüber klar zu sein, mit einer emotionalen Reaktion belegte, die in den folgenden Monaten ihren Schatten über jede wache Stunde werfen würde.
    Und über etliche Stunden seines Schlafs.
    Hellwach und konzentriert saß Thorne an seinem Schreibtisch und studierte den Tod, so wie andere auf ihren Computermonitor starren oder an einer Supermarktkasse sitzen. Das war der Stoff, mit dem er sich Tag für Tag beschäftigte, doch in Anbetracht dieses Materials wäre es angenehm gewesen, es nicht ganz so hautnah an sich heranlassen zu müssen. Selbst der Presslufthammer im Kopf nach einer durchzechten Nacht wäre ihm wesentlich lieber. Alles war recht, um den Lärm dieses Schreckens zu dämpfen.
    Er hatte Hunderte, vielleicht Tausende solcher Fotos gesehen. Hatte sie im Laufe der Jahre so unbeteiligt gemustert wie ein Zahnarzt ein Röntgenbild oder ein Buchhalter eine Steuererklärung. Er hatte die Übersicht verloren über die unzähligen bleichen Gliedmaßen, die sich ihm auf großen, schwarzweißen Abzügen in unnatürlichen Winkeln entgegenreckten, abgetrennt waren oder gänzlich fehlten. Dann waren da noch die Farbfotos. Fahle Leichen auf grünen Teppichen. Ein Band violetter Blutergüsse um einen Hals. Die grellbunt gemusterte Tapete, auf der sich die Blutspritzer kaum abheben.
    Eine nicht enden wollende Ausstellung mit einer einfachen Botschaft: Emotionen sind machtvoll, der menschliche Körper nicht.
    So sahen die in seinem Büro archivierten Bilder aus, deren Duplikate in seinem Kopf gespeichert waren. Schnappschüsse von Toten und Porträtaufnahmen vom Leben, das bis zum Letzten ausgereizt wurde. Es war schon vorgekommen, dass Thorne auf diese Leichen in Schwarzweiß gestarrt und geglaubt hatte, er hätte einen Blick auf Wut oder Hass erhascht, auf Gier oder Lust oder womöglich auf den Geist von all dem, der wie Ektoplasma in den Zimmerecken schwebte.
    Die Fotos, die an diesem Morgen auf seinem Schreibtisch lagen, waren keineswegs abartiger als andere, die er früher gesehen hatte. Doch bei dem Anblick dieser toten Frau hatte er das Gefühl, in eine Flamme zu stieren und zu spüren, wie seine Augapfel schmolzen.
    Er sah sie durch die Augen ihres Kindes.
    Charlie Garner, drei Jahre und nun elternlos.
    Charlie Garner, drei Jahre, für den seine Großeltern sorgten, die sich jeden Tag und jede Minute mit der Frage quälten, was sie ihm über seine Mami erzählen sollten.
    Charlie Garner, drei Jahre, der
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