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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman
Autoren: Viktor Pelewin
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Bluterguss an der Stirn und lag auf der ledernen Sitzbank, den Mund aufgesperrt und die mit der eigenen Krawatte zusammengebundenen Hände vor sich ausgestreckt. Vater Paissi machte sich an der Fensterverriegelung zu schaffen.
    An der Abteiltür klopfte es laut. Vater Paissi reagierte überhaupt nicht darauf, sondern verdoppelte seine Anstrengungen. Aber das Fenster gab nicht nach, offenbar war der hölzerne Rahmen durch Feuchtigkeit verzogen und klemmte.
    An der Tür klopfte es wieder.
    »Machen Sie auf!«
    »Eine Sekunde, meine Herren«, rief Vater Paissi. »Ich muss mich nur eben anziehen.«
    Bei diesen Worten taxierte er das Fenster und versetzte ihm einen heftigen Fußtritt. Die durchschossene Scheibe zerbarst, wurde von einem heftigen Windstoß gepackt und verschwand. Vater Paissi zog hastig die gröbsten Splitter aus dem Rahmen und schleuderte sie hinaus.
    »Keine Fisimatenten, öffnen Sie schleunigst!«, erklang es aus dem Gang. »Sonst brechen wir die Tür auf!«
    »Sofort, sofort …«
    Vater Paissi warf einen Blick aus dem Fenster. Sie fuhren auf einen breiten Fluss zu, der Zug war schon fast auf der Brücke.
    »Ausgezeichnet«, murmelte er.
    Jetzt wurde gegen die Tür geschlagen, und Vater Paissi beeilte sich. Er raffte den Saum seiner Kutte, löste die beiden Schlingen, die an der Kante festgenäht waren, und stieg mit den Schuhen hinein, als wären es Steigbügel. Zwei ebensolche Schlingen befanden sich in den Ärmeln, und Vater Paissi steckte seine Hände hindurch. Dann stieg er auf den kleinen Tisch und kauerte sich vor das eingeschlagene Fenster, das aussah wie ein quadratischer Rachen mit ein paar wenigen durchsichtigen Zähnen.
    Mit einem gewaltigen Knall flog die Tür aus den Angeln. Männer mit Revolvern in den Händen stürmten ins Abteil, es waren viele, und sie behinderten sich gegenseitig. Bevor sie den kleinen Tisch erreichten, stieß Vater Paissi sich mit den Füßen kräftig ab und stürzte sich aus dem Zug.
    Die Verfolger stürmten zum Fenster. Der Erste schwang sich auf den Tisch, sprang tapfer hinterher – und knallte mit voller Wucht mit dem Kopf gegen einen Brückenträger, der plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht war. Sein Körper prallte von der gusseisernen Konstruktion ab, wurde gegen den Waggon geschmettert und stürzte wie ein Sack auf die Erde. Im Abteil erhob sich ein unzufriedenes, wütendes Geschrei. Dann streckte der andere Verfolger seinen Kopf aus dem Fenster, in jeder Hand einen Revolver.
    Durch die Brückenträger sah man unter einem Baldachin hoher Federwolken den glatten, wie auf einer Daguerreotypie erstarrten Fluss. Als windgeblähter Schirm schwebte Vater Paissis violette Kutte über dem Wasser. Sie glitt wie ein riesiges Flughörnchen langsam auf die Wasseroberfläche zu.
    Schüsse peitschten auf. Eine Kugel prallte von einem Brückenträger ab, die übrigen ließen kleine Fontänen über dem Fluss aufstieben. Dann verloren die sich im Abteil drängenden Männer Vater Paissi aus dem Blick.

II
    Die abgeworfene Kutte versank langsam in der Trübe unter Wasser, und an der Wasseroberfläche tauchte nicht Vater Paissi auf, sondern Graf T., ein junger Mann mit einem schwarzen Bart in einem kragenlosen weißen Hemd. Mit einem tiefen Atemzug öffnete er die Augen und blickte gen Himmel.
    Das Gewölbe aus gleichmäßigen Federwolken schien wie ein Dach, das den Raum zwischen Erde und Himmel in einen gewaltigen offenen Pavillon verwandelte – ein kühles Freilichttheater, in dem alles Lebendige spielt. Es war still, nur von irgendwo weither drang das Geräusch des sich entfernenden Zuges, und ein gemächliches Plätschern war zu hören, als würde jemand in regelmäßigen Abständen eine Handvoll Steine ins Wasser werfen.
    Ungeachtet der gerade überstandenen Gefahr empfand T. eine eigenartige Ruhe und Zufriedenheit.
    »Der Himmel ist selten so hoch«, dachte er und kniff die Augen zusammen. »An klaren Tagen ist der Himmel überhaupt nicht hoch – nur blau. Es muss Wolken geben, damit er hoch oder niedrig ist. Mit der menschlichen Seele verhält es sich genauso, sie ist nicht aus sich selbst heraus erhaben oder niedrig, sondern in Abhängigkeit von den Absichten und Gedanken, die sie zum jeweiligen Moment erfüllen … Gedächtnis, Persönlichkeit – auch damit verhält es sich wie mit den Wolken … Zum Beispiel ich …«
    Plötzlich schlug T.s Stimmung radikal um. Die Zufriedenheit schwand und wich einem jähen Erschrecken – T. ruderte sogar unwillkürlich heftig
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