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Tolstois Albtraum - Roman

Tolstois Albtraum - Roman

Titel: Tolstois Albtraum - Roman
Autoren: Viktor Pelewin
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Bahnstation ist es weit zu laufen. Weit ist der Weg, dunkel die Nacht …«
    »Ein Savage, ein französischer?«, schnurrte Knopf. »Nicht übel. Kommen Sie, ich zeige Ihnen meinen …«
    Er zog einen krummen Smith-&-Wesson-Polizeirevolver unter der Achsel hervor.
    Eine merkwürdige Situation hatte sich da im Zugabteil ergeben.
    Der violette Geistliche und der karierte Herr saßen jeder auf ihrer ledernen Sitzbank, den Revolver in der Hand – nicht dass sie einander damit unmittelbar bedroht hätten (ihr Gespräch war eher scherzhaft und heiter), aber dennoch hielten sie die gezogenen Waffen deutlich und unverkennbar aufeinander gerichtet.
    »Da wir gerade vom Grafen T. sprechen«, fing Knopf an. »Wissen Sie, was der gewaltlose Widerstand gegen das Böse ist?«
    »Natürlich«, erwiderte der Geistliche und spielte mit seinem Revolver. »Das ist die moralisch-ethische Lehre von der Unzulässigkeit der Vergeltung von Bösem durch Böses. Sie stützt sich auf Zitate aus dem Evangelium, die allerdings willkürlich ausgewählt sind. Unser Herr hat tatsächlich gesagt: ›Demjenigen, der dich auf die rechte Wange schlägt, halte auch die linke hin.‹ Aber der Herr hat auch etwas anderes gesagt: ›Nicht den Frieden habe ich gebracht, sondern das Schwert‹ …«
    »Eine moralische Lehre, sagen Sie?«, fragte Knopf und strich mit dem Finger über die Trommel. »Da habe ich aber andere Informationen.«
    »Nämlich welche?«
    »Graf T. hat sein Leben lang östliche Kampftechniken studiert. Und auf dieser Basis hat er seine Nahkampfmethode aufgebaut, so ähnlich wie Ringen, nur weitaus raffinierter. Sie beruht darauf, dass man Kraft und Gewicht des Angreifers gegen diesen selbst wendet, und das unter minimalem eigenem Kraftaufwand. Der Eisenbart hat in dieser Kunst die höchste Stufe der Meisterschaft erlangt. Und diese Art Kampf bezeichnet man als ›Gewaltlosen Widerstand gegen das Böse‹, abgekürzt GEWI . Die Griffe sind so tödlich, dass man dem Grafen nicht anders beikommen kann, als ihn zu erschießen.«
    Knopfs Erzählung hatte eine eigenartige Wirkung auf Vater Paissi – er griff erschrocken mit der Hand an seinen Bart, als hege er irgendwelche Befürchtungen für ihn. Der Lauf seines Revolvers blickte indes nach wie vor in Richtung Knopf.
    »Der Eisenbart«, sagte er mit großen Augen, »so, so … Aber woher kommt dieser seltsame Beiname?«
    Knopf zuckte mit den Schultern.
    »Asien halt … Und der moralische Aspekt des gewaltlosen Widerstands, den Sie da erwähnen – das ist nichts als dekorative Philosophie, mit der die Asiaten ihre blutrünstigen Kriegskünste so gerne verzieren. Deswegen haben die Verfolger des Grafen Befehl, das Feuer zu eröffnen, falls er versucht, sich zur Wehr zu setzen.«
    »Das ist ja entsetzlich, was Sie da erzählen«, ächzte Vater Paissi. »Man wird doch wohl nicht so ohne weiteres auf einen armen Verstoßenen schießen? Der Tod außerhalb des Schoßes der Kirche – solange der Kirchenbann auf ihm lastet –, das ist der direkte Weg in die Gehenna!«
    »Ach, Väterchen, was sollen die Muschkoten denn tun? Anders bekommt man den Grafen nicht zu fassen. Er ist ein entsetzlicher Gegner – allerdings muss man zugeben, dass er versucht, sich die Hände nicht mit Blut zu besudeln. Seine asiatische Philosophie besteht nämlich darin, einen Schlag nicht mit einem Schlag zu erwidern, sondern zwischen sich und dem Gegner ein todbringendes Hindernis aufzubauen, das den Angriff abfängt und den Angreifer tödlich verletzt. Ein solches Hindernis kann alles Mögliche sein, Graf T. verfügt in der Beziehung über unerreichte Fertigkeiten.«
    »Das heißt, man wird auf den Grafen schießen?«, fragte Vater Paissi nach. Er konnte diesen entsetzlichen Gedanken offenbar einfach nicht fassen.
    »Ich fürchte, ja«, bestätigte Knopf bekümmert.
    Ein angespanntes Schweigen lag in der Luft. Dann erlosch mit einem Mal das Tageslicht, und es wurde dunkel; der Zug war in einen Tunnel gefahren, und das rhythmische Klopfen der Räder, das von den steinernen Wänden widerhallte, übertönte alle anderen Laute.
    Es ist unklar, was in den nächsten ein oder zwei Minuten in der ratternden Dunkelheit genau geschah. Als es wieder hell wurde, sah das Abteil jedenfalls mehr als merkwürdig aus.
    In der Luft hingen Schwaden von graublauem Pulverdampf. In der Fensterscheibe klafften drei Schusslöcher. Vater Paissis durchschossener Klobuk lag auf dem Boden. Der bewusstlose Knopf hatte einen purpurroten
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