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Tödliches Orakel

Tödliches Orakel

Titel: Tödliches Orakel
Autoren: Tina Sabalat
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vielleicht ein wenig länger«, zitierte ich mich selbst aus dem Text, den ich neuen Kunden aufsagte.
    Der Mann schien nicht darauf zu reagieren. Sein harter Blick änderte sich nicht, und er sagte auch nichts. Er starrte mich an, und ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich es hinter seiner Stirn arbeiten sah, aber das lag nicht nur an der Skimaske: Er war unbewegt wie eine Statue, verriet durch nichts, was er dachte oder plante.
    Es verging eine gute Minute, in der außer dem fernen Wassertröpfeln nichts zu hören war. Dann nahm der Mann die eine Hand von der Waffe und zog sich mit einer schnellen Bewegung die Wollmütze vom Kopf. Er enthüllte den schmallippigen Mund, den ich schon erahnt hatte, und ich schnappte erschrocken nach Luft, als ich von einer Sekunde zur anderen in ihn hineingesogen wurde. Es fühlte sich an wie ein Sprung aus dem Fenster, hervorgerufen durch einen harten Stoß - ich war nicht bereit gewesen, er hatte mich überrumpelt.
    Ein Gebiss zog an mir vorbei, von einem schlechten Zahnarzt gepflegt, mit unzähligen Füllungen und dürrem Zahnfleisch. Ein Geruch nach Salami und dunklem Brot, Kaffee und kratzigem Tabak wehte mir entgegen, als ich in den Hals geschleudert wurde. Und als ich im Magen kopfüber in einen Matsch eintauchte, der roch, als würde er seit Wochen dort vor sich hin gären, erschütterte ein Schauder meinen ganzen Körper. Der Matsch war zäh und fest, umklammerte meine Beine, zog mich wie ein Sumpf hinunter in eine nie gekannte Dunkelheit. Ich hatte es hunderte Male getan, dieses Abtauchen, doch jetzt erzitterten meine Glieder wie im Schüttelfrost, Gänsehaut kroch mir am ganzen Körper hinauf und prickelte im Haaransatz, dass es fast schmerzte. Es war anders heute, aber dennoch hatte ich es so ähnlich schon einmal erlebt: in den frühen Tagen meines sehenden Seins. Und dann noch einmal, in Olegs Magen.
    Ja, hier in dieser düsteren Wohnung, die so gar nichts mit meinem weißen, sauberen Konsultationszimmer gemein hatte, hatte ich erneut die Kontrolle verloren, war es wieder der Andere, der bestimmte, dass ich sehen musste, auch, wenn ich gar nicht sehen wollte. Und ich fürchtete mich vor dem, was mir der Magen dieses Mannes enthüllen würde - über ihn, aber auch über mich selbst, die ich doch zur Zukunft dieses Mannes gehören sollte: Ich war die Beute, die er mitbringen sollte, das Pfand, das er gegen seinen Lohn eintauschte, der sterbliche Körper, den er mit der Waffe bedrohte. Nein, ich wollte nicht sehen, ich wollte zurück in mein Haus, zurück in meinen Käfig, seine Tür von innen verriegeln und verrammeln. Doch mein Weg in die Gefangenschaft war nur eine der Zukunftsvarianten, die auf mich warten konnten. Genau so gut konnte es mein Tod sein, ein kurzer, heller Blitz aus dieser Waffe, scharfer Schmerz, dann Dunkelheit und Leere. Oder Sams Tod. Schmerz an einer anderen Stelle, schwerer zu fassen aber dennoch nicht weniger schlimm. Ja, auch dieser Tod würde Dunkelheit und Leere erzeugen, und zwar in meinem Herzen. Nein, das wollte ich nicht sehen, das durfte nicht sein, weder das Erste noch das Zweite noch das Dritte!
    Der Magen des Mannes wurde von einem Lichtstrahl erhellt, aus dem Lichtstrahl wurde gleißendes Sonnenlicht. Und als das Leben des Mörders auf mich einstürmte, fand ich bestätigt, was ich befürchtet hatte: Ich hörte den Knall, ich sah das Blut, registrierte den Schmerz und den Tod. Aber ich spürte noch etwas anderes, im Jetzt, nicht im Bald, nämlich Sams Schulter an meiner, und ich fühlte auch seinen türkisblauen Blick. Besorgt, gleichzeitig voller Vertrauen und Hoffnung. Und aus meiner eigenen Angst wurde nun etwas anderes, jetzt, wo ich Sam wahrnahm, etwas Gefährliches, und zwar nicht für mich, sondern für den Mann, in den ich mich unfreiwillig hatte versenken müssen: Wut.
    Ja, ich verspürte plötzlich eine unbändige Wut auf diesen Mann, weil er alles kaputtmachte, was ich mir aufgebaut hatte. Weil er meine mühsam errichtete Mauer überwunden, mein sauberes Wasser mit Blut besudelt und meine Selbstsicherheit zerstört hatte. Weil er mich ängstigte, Sam bedrohte, Tobias getötet hatte. Weil er für das Regime eines Landes arbeitete, das Menschenrechte mit Füßen trat und in dem man nicht einmal denken durfte, was in einem freien Land hemmungs- bis rücksichtslos heraus geschrien wurde. Es gab viele Gründe, auf diesen Mann wütend zu sein, und wie schon eben meine Angst, addierte sich nun meine Wut. Sie machte mich
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