Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tödliches Orakel

Tödliches Orakel

Titel: Tödliches Orakel
Autoren: Tina Sabalat
Vom Netzwerk:
schon, wie er aussah, hatte ich ihn doch schon zahllose Male erblickt: in Sams Zukunft. Die Balkone, auf denen statt Gartenstuhl und Sonnenschirm ausrangierte Kühlschränke und gestapelte Getränkekästen standen. Die ausgewaschene Fassade, auf die der Regen und die Gleichgültigkeit der Besitzer wie Bewohner dunkle Schleier gemalt hatten. Die vor Werbebroschüren überquellenden Briefkästen, das tote Laub unter der Betontreppe, die Graffitis der Gangs wie Reviermarkierungen auf der Tür: Nein, ich gönnte dem Gebäude nicht einen Blick. Ich hielt stattdessen meine Nase in die Stadtluft und realisierte erstaunt, dass mir Geruch fehlte, wenn ich in Menschen hineinsah. Er war einfach nicht da gewesen, dieser Duft nach Grill, Moped-Abgasen und in der Sonne bratendem Müll, er hatte komplett gefehlt. Und ich hatte auch davor nie einen Geruch gesehen, bei keinem meiner Kunden - keine salzige Meerluft, keinen würzigen Wald, keine Kochdünste, nichts.
    Macht dieses Fehlen von Geruch etwas aus?, fragte ich mich, konnte es meine Vorhersagen trüben? Macht es sie unwahrer, vielleicht sogar falsch? Ich wusste es nicht, und diese Erkenntnis ließ mich nicht gerade selbstsicherer werden. Wenn schon so etwas Banales wie der Geruch fehlte, was war dann noch alles nicht da?
    »Übles Viertel«, bemerkte Sam und drückte meine Finger, als wolle er mich darüber hinwegtrösten, dass er mich in diese alles andere als heimelige Gegend gelotst hatte.
    Mir bedeutete dieses Zudrücken tatsächlich etwas - wie auch die Tatsache, dass Sam meine Hand so gut wie nicht mehr losgelassen hatte, nachdem ich im Garten zögerlich meine Finger in seine gelegt hatte. Weniger als Zeichen dafür, dass ich einverstanden war mit seinem Plan, in diese Wohnung zu fahren, als vielmehr als Zeichen meiner Kapitulation. Und meiner Machtlosigkeit, uns heil mittels dieser meiner ach so besonderen Fähigkeit aus dieser eingefahrenen Situation heraus zu lotsen. Nein, die Gegend war nicht der Grund, warum ich Sams Halt brauchte. Was dann? Zum einen hatte ich gerade etwas getan, was ich seit Jahren nicht mehr getan hatte, nämlich mein Haus zu verlassen. Meine Zuflucht, diesen kleinen Bereich der Welt, in dem ich frei war. Ich hatte immer gewusst, dass ich mich nicht für immer hinter diesen Mauern würde verstecken können, dass ich aus dem Tor treten und mich der Welt stellen musste. Aber nicht heute, sondern irgendwann. Und vor allem vorbereitet, geistig wie körperlich.
    Und der zweite Grund, warum ich dankbar für Sams Beistand war? Die bohrende Ungewissheit über den Ausgang unseres Ausflugs, die mich zum ersten Mal den unbändigen Druck verspüren ließ, Sams Gesicht zu mir herumzuziehen und in seinen Magen zu springen. Damit sie der Gewissheit weichen konnte, dass alles gut werden würde. Aber Sam weigerte sich, er fand Hoffnung im Nicht-Wissen. Und er hatte mal wieder bewiesen, wie pragmatisch er war und sich einen Schal um den Hals gewickelt, dessen Tuch er sich über den Mund gezogen hatte: Das ließ ihn wie einen Bankräuber aus alten Zeiten aussehen und mich zukunftslos zurück.
    Vor uns quietschte etwas und holte mich aus meinen Gedanken. Die mit drahtdurchzogenem Sicherheitsglas bewehrte Tür öffnete sich, eine Frau bugsierte einen Kinderwagen hindurch. Sams lange Beine eilten die Treppe hinauf, zogen mich hinter sich her. Er hielt die Tür fest, die Frau dankte ihm, und wundersamerweise funktionierte der Aufzug. Sam drückte auf die Achtzehn, die mit dem ewig wiederkehrenden Graffiti-Kürzel besprühte Kabine beförderte uns nach oben.
    »Welche Tür?«, fragte Sam, als wir hinaus in den Gang traten, ich nickte nach rechts.
    Und wieder war es der Geruch, der mich überraschte und das ängstliche Ziehen in meinen Innereien verstärkte: Modrig roch es, feucht und schimmelig. Der Ursprung dieses üblen Dunstes war leicht zu erkennen, bog sich doch über unseren Köpfen die fleckige Deckenverkleidung durch, hier und da waren gar Stücke herausgebrochen und auf dem Boden zertreten worden. Wasserschaden am Dach, vermutete ich. Man hatte das oberste Stockwerk geräumt, mehr aber auch nicht: Durch offene Türen gähnten uns verlassene Wohnungen entgegen, und ich glaubte, irgendwo im Hintergrund ein stetiges Tropfen zu vernehmen.
    Die Tür, die auf uns wartete, war angelehnt, auf einen nachdrücklichen Stoß von Sams Hand flog sie auf und prallte gegen die Wand. Wir horchten in die Wohnung, aber außer einem dumpfen Fernsehgeräusch von unten und dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher