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Toedliche Worte

Toedliche Worte

Titel: Toedliche Worte
Autoren: Val McDermid
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Viele Studenten schrieben sich ein, weil sie den Mann kennenlernen wollten, der einige der bekanntesten Serienmörder des Landes überführt hatte. Und Sponsoren waren auf den voyeuristischen Kitzel seiner Jagdgeschichten aus, die sie ihm auf Umwegen zu entlocken versuchten. Wenn er auch in seiner Zeit an der Universität nicht viel gelernt hatte, so doch wenigstens eins, nämlich dass er kein Talent für Auftritte vor einem Publikum besaß. Über welche anderen Gaben er auch verfügen mochte, Diplomatie ohne tieferen Sinn hatte nie dazugehört.
    Die Begegnung mit Janine Stirrat von heute früh gab ihm das Gefühl, jetzt sei das Fass am Überlaufen. Tony zog die Tastatur zu sich heran und fing an, einen Brief aufzusetzen.
    Drei Stunden später rang er nach Luft. Jetzt zahlte er den Preis dafür, dass er den Aufstieg zu schnell gemacht hatte. Als er in die Hocke ging, spürte er das struppige Gras unter seinen Füßen und fand es trocken genug, um sich hinzusetzen. Er ließ sich auf den Boden sinken und lag so lange mit ausgestreckten Armen und Beinen da, bis das Klopfen in seiner Brust nachließ. Dann setzte er sich auf und genoss die Aussicht. Vom Gipfel des Largo Law aus sah er unten den Meeresarm des Firth of Forth im späten Licht der Frühjahrssonne glitzern. Gegenüber konnte er bis zum Berwick Law sehen, dem Gegenstück zu seinem eigenen Standort aus prähistorischer Zeit, von dessen Vulkanspitze ihn jetzt eine meilenweite, petrolgrüne Wasserfläche trennte. Er blickte sich nach den anderen Orientierungspunkten um: Bass Rock, ein stumpfer, dicker Daumen, May Island, die wie ein in der Sonne liegender Buckelwal dalag, und als undeutlicher Schatten weit in der Ferne Edinburgh. In dieser Gegend von Fife gab es einen Spruch: »Wenn man May Island sieht, wird es bald regnen. Wenn man May Island nicht sieht, dann regnet es schon.« Heute sah es nicht nach Regen aus. Nur hier und da unterbrachen leichte Wolkenschleier die Bläue wie zarte luftige Teigstücke, die man aus einem Frühstücksbrötchen herausgerissen hat. Dies alles würde ihm fehlen, wenn er weiterzog.
    Aber die schöne Aussicht war schließlich kein Grund, sein eigentliches Talent zu vernachlässigen. Für den akademischen Betrieb war er nicht geboren. In erster Linie war er klinischer Psychologe und dann Profiler. Ende des Semesters wurde seine Kündigung wirksam, es blieben ihm also noch zwei Monate, in denen er überlegen konnte, was er dann machen wollte.
    An Angeboten fehlte es ihm nicht. Obwohl er sich mit seinen früheren Unternehmungen nicht immer lieb Kind beim Innenministerium gemacht hatte, war es ihm dank des Falls, den er kürzlich in Deutschland und Holland bearbeitet hatte, gelungen, die britische Bürokratie einfach zu übergehen. Jetzt wollten ihn die Deutschen, Niederländer und Österreicher als Berater haben. Nicht nur für Serienmorde, sondern auch für andere Delikte, für die internationale Grenzen so gut wie gar nicht zu existieren schienen. Es war ein verlockendes Angebot, das ihm zumindest ein Einkommen garantieren würde, von dem er leben konnte. Und es würde ihm die Möglichkeit bieten, zur klinischen Praxis zurückzukehren, auch wenn es nur eine Teilzeitstelle wäre.
    Außerdem musste er bei seinen Plänen Carol Jordan berücksichtigen. Wie immer, wenn er an sie dachte, scheute er vor einer direkten Konfrontation zurück. Irgendwie musste er eine Möglichkeit finden, das wieder gutzumachen, was mit ihr geschehen war, ohne dass sie die Absicht erkannte, die dahinterstand.
    Und bis jetzt hatte er keine Ahnung, wie er das erreichen könnte.

    Tag zwei, und immer noch keine Spur von Tim Golding. Schweren Herzens gestand sich Merrick ein, dass sie bereits kein lebendes Kind mehr suchten. Morgens hatte er Alastair und Shelley Golding besucht, und der Hoffnungsschimmer in ihren Augen, als er ihr schmuckes viktorianisches Reihenhaus betrat, traf ihn ins Herz. Sobald sie begriffen, dass er ihnen nichts zu sagen hatte, wurde ihr Blick stumpf. Die Angst hatte sie ausgehöhlt, bis in ihrem Inneren nichts mehr als eine karge Hoffnung blieb.
    Als Merrick das Haus verließ, fühlte er sich trostlos und leer. Er warf einen Blick die Straße entlang und dachte, welche Ironie darin lag, dass Tim Golding sozusagen der Verschönerung des heruntergekommenen Wohnviertels zum Opfer gefallen war. Harriestown, wo die Goldings wohnten, war früher ein Arbeiterviertel gewesen. Dann fingen junge, unternehmungslustige Paare auf der Suche nach
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