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Tödliche Gier

Tödliche Gier

Titel: Tödliche Gier
Autoren: Sue Grafton
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geblieben?«
    »In meinen Augen war er ein guter Ehemann. So naiv war ich. Er neigte zwar zur Distanziertheit, aber das nahm ich ihm nicht übel, jedenfalls nicht bewusst. Vielleicht habe ich einen gewissen Groll empfunden, aber das gestand ich mir nicht ein. Rückblickend ist mir klar, dass es viele Arten gibt, auf die ein Mann verschwinden kann.«
    »Zum Beispiel?«
    Sie zuckte die Achseln und drückte ihre Zigarette aus. »Fernsehen, Schlaf, Alkohol, Bücher, Aufputsch- oder Beruhigungsmittel. Ich spreche ganz allgemein, aber Sie wissen, worauf ich hinauswill.«
    »Und in seinem Fall?«
    »Dow hat sich in seiner Arbeit vergraben. Ging in aller Herrgottsfrühe hin und ist bis spät in die Nacht in seinem Büro geblieben. Was Sie über ihn wissen müssen, ist, dass er jemand ist, der Auseinandersetzungen meidet. Deshalb liebt er alte Leute — weil sie keine echten Anforderungen an ihn stellen. Dass er Arzt ist, verschafft ihm einen gewissen Status, was in seinen Augen grundsätzlich besser ist, als jemandem Rede und Antwort stehen zu müssen wie jeder normale Sterbliche.«
    »Wie lange waren Sie verheiratet?«
    »Fast vierzig Jahre. Wir haben uns in Syracuse kennen gelernt. Ich habe im Hauptfach Kunstgeschichte studiert, und er hatte gerade mit dem Vorstudium für Medizin begonnen. Kurz nachdem wir unsere Abschlüsse gemacht hatten, haben wir geheiratet. Dow ist dann zum Medizinstudium auf die Penn State gegangen und hat dort auch sein Praktikum und seine Assistenzzeit absolviert. Da hatten wir die Mädchen schon. Ich bin bei ihnen zu Hause geblieben, bis sie beide in der Schule waren, und dann habe ich weiterstudiert und meinen Magister in Innenarchitektur gemacht. Ich habe das Haus entworfen, das wir kurz darauf in Horton Ravine gebaut haben. Natürlich hatten wir einen Architekten, der sich um die praktische Seite gekümmert hat.«
    »Das Haus gehört ihm immer noch?«
    »Ja, obwohl es Crystal nicht gefällt, soweit ich gehört habe.«
    »Sie haben bei der Scheidungsvereinbarung keinen Anspruch auf das Haus erhoben?«
    »Ich konnte mir Hypothek und Unterhalt nicht leisten. Wenn Sie ihn von der Scheidung reden hören, wurde er geschröpft — aber das ist einzig und allein seine Sicht der Dinge. Glauben Sie mir, er ist besser weggekommen. Vermutlich hat er jemanden bestochen — den Richter oder meinen Anwalt. Sie wissen ja, wie Männer zusammenhalten, wenn es um den allmächtigen Dollar geht.«
    Mir fiel auf, dass sie sich eifrig darum bemühte, meine Wahrnehmung zu beeinflussen und Punkte für ihr Lager einzuheimsen. Geschiedene versuchen irgendwie immer, sich die Sympathie ihres Gegenübers zu sichern, indem sie sich ins bestmögliche Licht rücken. In diesem Fall kam mir das merkwürdig vor, da der Anlass für meinen Besuch doch darin bestand, dass sie entschied, ob sie mich für die Suche nach ihm brauchen konnte. War sie immer noch in diesen Mann verliebt? »Es muss schwer gewesen sein, als Ihre Ehe zerbrach«, murmelte ich.
    »Demütigend. Niederschmetternd. Es war dermaßen klischeehaft. Ein Arzt durchlebt die Midlife-Crisis und verlässt seine gleichaltrige Frau, um sich mit einer Hure einzulassen.«
    Für die Zeitungen war es ein gefundenes Fressen gewesen, dass Crystal als Stripperin gearbeitet hatte. Trotzdem widerstrebte mir, dass Fiona das Wort »Hure« benutzte. Strippen als Broterwerb bedeutete nicht zwangsläufig eine Existenz als Prostituierte. Womöglich hatte Crystal sogar ihren Magister in psychiatrischer Sozialarbeit gemacht. »Wie hat er sie kennen gelernt?«
    »Das müssten Sie sie fragen. Ehrlich gesagt hat Dow Gelüste nach... mmm... ausgefallenen Sexualpraktiken entwickelt. Mit dem Alter sank sein Hormonspiegel ab, oder seine Ängste nahmen zu. Vielleicht gingen seine Probleme auch auf seine Mutter zurück. Alles andere hängt ja auch mit seiner Beziehung zu ihr zusammen. Aus welchem Grund auch immer, als Dowan sechzig wurde, bekam er Schwierigkeiten. Er konnte nicht mehr... na ja... er konnte ohne Stimulation keinen Verkehr mehr haben. Pornografie, Sexartikel...«
    »Die Ihnen nicht gefielen.«
    »Ich fand es ekelhaft. Ich kann Ihnen die Praktiken gar nicht nennen, die er ausprobieren wollte — unaussprechliche Handlungen, die ich absolut indiskutabel fand. Schließlich hörte er auf, mich zu bedrängen.«
    »Weil er mit ihr etwas angefangen hatte?«
    »Offensichtlich. Er hat es nie zugegeben, aber ich bin mir sicher, dass er sich umgesehen hat. Ich hatte mich schon gefragt, ob er
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