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Tödliche Gier

Tödliche Gier

Titel: Tödliche Gier
Autoren: Sue Grafton
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an aktuellen Informationen hatte das Interesse der Öffentlichkeit massiv abgenommen, und die Aufmerksamkeit, die die Medien der Angelegenheit widmeten, war so knapp und kühl geworden wie die kurzen Novembertage. Es liegt in der Natur des Menschen, dass wir uns nur begrenzte Zeit mit den Rätseln des Lebens beschäftigen können, bevor wir das Interesse verlieren und uns etwas anderem zuwenden. Dr. Purcell wurde seit Freitag, den 12. September, vermisst, und die langen Kolumnen, in denen anfangs über sein Verschwinden berichtet wurde, waren nun gelegentlichen Erwähnungen mit fast gebetsmühlenhaftem Ton gewichen. Die Einzelheiten wurden wiederholt, doch die Neugier hatte sich aufregenderen Ereignissen zugewandt.
    Dr. Purcell war neunundsechzig Jahre alt und hatte seit 1944 als Hausarzt in Santa Teresa praktiziert. Die letzten fünfzehn Jahre hatte er sich auf Geriatrie spezialisiert. 1981 war er in den Ruhestand gegangen. Sechs Monate später war er als Verwaltungsleiter eines Pflegeheims namens Pacific Meadows zugelassen worden, das zwei Geschäftsleuten gehörte. An dem fraglichen Freitagabend hatte er Überstunden gemacht und war in seinem Büro geblieben, um Unterlagen durchzusehen, die mit dem Betrieb des Pflegeheims zusammenhingen. Laut Zeugenaussagen war es schon fast neun Uhr gewesen, als er kurz an der Rezeption stehen geblieben war und den Dienst habenden Schwestern eine gute Nacht gewünscht hatte. Zu dieser Stunde befanden sich die Heimbewohner bereits in ihren Zimmern und hatten die Türen zu den nur noch matt erleuchteten, menschenleeren Fluren geschlossen. Dr. Purcell hatte ein Weilchen mit einer alten Dame geredet, die in ihrem Rollstuhl in der Halle saß. Nach kurzem Geplauder, das ihrer Aussage nach kaum eine Minute gedauert hatte, war der Doktor durch die Vordertür in die Nacht hinausgegangen. Er holte seinen Wagen von seinem persönlichen Stellplatz an der Nordseite des Gebäudekomplexes, verließ das Gelände und fuhr in das schwarze Nichts, aus dem er nie wieder aufgetaucht war. Die Polizei von Santa Teresa und der Sheriff von Santa Teresa County hatten unzählige Stunden auf den Fall verwendet, und ich konnte keinen Weg nennen, der von den örtlichen Polizeibehörden noch nicht beschritten worden wäre.
    Ich klingelte erneut. Fiona Purcell hatte mir erklärt, dass sie kurz vor der Abreise nach San Francisco stand, wo sie sich fünf Tage aufhalten wollte, um Möbel und Antiquitäten für einen Klienten ihres Innenarchitekturbüros auszusuchen. Den Unterlagen zufolge waren Fiona und der Doktor seit fünf Jahren geschieden. Ich fragte mich beiläufig, warum sie diejenige gewesen war, die mich angerufen hatte, und nicht seine derzeitige Frau Crystal.
    Ich sah, wie in einer der beiden Glasscheiben, die den Eingang flankierten, ein Gesicht auftauchte. Fiona, mit einem doppelreihigen Nadelstreifenkostüm mit breitem Revers bereits reisefertig gekleidet, öffnete die Tür. Sie streckte mir eine Hand entgegen. »Ms. Millhone? Fiona Purcell. Tut mir Leid, dass Sie warten mussten. Ich war im hinteren Teil des Hauses. Bitte kommen Sie herein.«
    »Danke. Sie können mich Kinsey nennen, wenn Sie wollen. Nett, Sie kennen zu lernen«, sagte ich.
    Wir schüttelten uns die Hände, und ich betrat die Diele. Ihr Händedruck war lasch, was mich an Leuten, die sonst zupackend und geschäftsmäßig auftreten, stets verblüfft. Ich schätzte sie auf Ende sechzig, also fast so alt wie Dr. Purcell selbst. Sie trug die Haare dunkelbraun gefärbt und seitlich gescheitelt. Bauschig gefönte Ponyfransen und Büschel künstlich erzeugter Locken wurden von strassbesetzten Kämmen aus dem Gesicht gehalten, ein Stil, wie ihn glamouröse Filmstars der vierziger Jahre pflegten. Fast erwartete ich schon einen Auftritt von John Agar oder Fred MacMurray — irgendeines armen, arglosen Mannes, der dieser Amazone mit ihren massiven Schulterpolstern zum Opfer fallen würde. »Wir können uns im Wohnzimmer unterhalten«, sagte sie. »Bitte entschuldigen Sie die Unordnung.«
    In der Diele war bis an die hohe Decke ein Gerüst aufgebaut worden. Lose Abdecktücher schützten die Treppe und den breiten Flur, der in den hinteren Teil des Hauses führte. Auf einer Seite der Treppe stand ein Konsoltischchen mit einer stromlinienförmigen Chromlampe. Momentan schienen wir beide allein im Haus zu sein.
    »Ihr Flug geht um zehn?«, fragte ich.
    »Keine Sorge. Ich brauche nur acht Minuten zum Flughafen. Wir haben mindestens eine Stunde Zeit.
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