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Tödlich ist die Nacht

Tödlich ist die Nacht

Titel: Tödlich ist die Nacht
Autoren: T Hoag
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Individualisten, denen das Anderssein auf die Stirn geschrieben war.
    Jace verzichtete auf derartige Statements. Er zog das an, was er billig oder umsonst im Selbsthilfeladen bekam – weite Shorts und Sweatshirts mit abgeschnittenen Ärmeln, die er über Radlerhosen und langärmeligen T-Shirts trug. Seine Haare standen wie Stacheln durch die Schlitze in seinem Fahrradhelm. Die Schwimmbrille ließ ihn wie einen Außerirdischen aussehen.
    Er nahm die Brille ab und rieb sich den Staub aus den Augen, während er sein Rad in den Aufzug schob und die 17 drückte. Sein Geruch stieg ihm in die Nase – alter Schweiß und Abgase. An diesem Tag hatte er dreiundzwanzig Sendungen ausgeliefert und konnte spüren, dass der Dreck der Stadt wie ein Film auf sei ner Haut klebte. Er hatte sich draußen vor der Tür auf dem Gehweg das Knie aufgeschlagen. Blut lief in langsamen, dicken Tropfen über sein schmutziges, nacktes Schienbein und wurde von seiner ausgeleierten, grauen Socke aufgesogen.
    Wenn er endlich zu Hause war und sich unter die Dusche stellen konnte, würde er diesen Tag von sich abwaschen und wieder zu einem blonden weißen Jungen werden. Er würde ein paar Stunden mit seinem kleinen Bruder Tyler verbringen und sich dann hinter seine Bücher setzen, bis er über ihnen einschlief. Nur allzu bald würde es wieder halb sechs sein und ein weiterer Tag damit beginnen, dass er in dem Fischmarkt in Chinatown, über dem sie wohnten, Eis in die Kühlboxen schaufelte.
    Mein Leben ist beschissen.
    Er erlaubte sich nur selten, sich das einzugestehen. Was hatte es für einen Sinn, lange darüber nachzudenken? Er hatte nicht die Absicht, sein Leben ewig auf diese Weise fortzuführen. Das war es, worauf er sich konzentrieren musste: Veränderung, Verbesserung, die Zukunft.
    Er hatte eine Zukunft. Tyler hatte eine Zukunft – dafür hatte Jace bisher gesorgt, und er würde auch weiterhin dafür sorgen. Und ihre Zukunft würde tausendmal besser sein als alles, was ihnen das Leben bis jetzt geboten hatte. Es war nur eine Frage der Zeit und der Zielstrebigkeit und des Willens.
    Ein Gong ertönte und die Türen des Aufzugs gingen auf. Das Planungsbüro lag am Ende des Korridors auf der linken Seite. Nr. 1701 . Planung und Entwicklung. Lori, die niedliche Empfangsdame, war schon weg, und damit war auch die Chance auf ein kostenloses Snickers dahin. Mr. Planung und Entwicklung stand an ihrem Schreibtisch und brüllte ins Telefon. Er hielt abrupt inne und knallte den Hörer auf die Gabel, als Jace mit den Blaupausen hereinkam.
    »Das wird aber auch Zeit, verdammt noch mal!«, schrie er. »Da wäre ja meine achtzigjährige Mutter mit ihrer Gehhilfe schneller hier gewesen!«
    »Tut mir Leid«, sagte Jace und hielt ihm die Empfangsbestätigung entgegen. Er verzichtete auf weitere Entschuldigungen oder Erklärungen. Er wusste aus Erfahrung, dass Mr. Planung und Entwicklung sich nicht dafür interessierte. Ihn interessierte nur, dass er jetzt seine Blaupausen hatte und sein Leben weiterleben konnte.
    Er riss Jace die Empfangsbestätigung aus der Hand, kritzelte eine Unterschrift darunter und warf sie ihm wieder zu. Kein Danke, kein Trinkgeld, kein gar nichts. Lori hätte vielleicht sein aufgeschlagenes Knie bemerkt und ihm außer dem Snickers noch ein Pflaster gegeben und ihn ein bisschen bedauert. Jetzt musste er sich mit der Vorstellung zufrieden geben. Wenigstens in seiner Fantasie führte er ein Leben, in dem er es sich leisten konnte, ein Mädchen in ein nettes Restaurant auszuführen.
    Zurück auf der Straße funkte er die Zentrale an, um die Lieferung zu bestätigen. Bis ins Büro brauchte er fünfzehn Minuten, dort würde er eine halbe Stunde damit verbringen, seine Empfangsbestätigungen mit Etas Laufzetteln abzugleichen, auf denen sie notierte, welchen Auftrag sie welchem Kurier erteilt hatte. Viertel nach sieben könnte er unter der Dusche stehen.
    »Sechzehn an Zentrale. Jace an Zentrale. Sendung an Mr. Riesenarmleuchter geliefert und quittiert.«
    »Verstanden, mein Engel. Der Platz im Himmel ist dir sicher.«
    »Ich glaube nicht, dass es einen Himmel gibt.«
    »Herzchen, du musst aber an eine bessere Welt als diese hier glauben.«
    »Klar. Die heißt Malibu. Ich werd mir ein Haus dort kaufen, wenn ich reich und berühmt bin.«
    »Prima, dann komm ich und lass mich von dir aushalten. Kriegst dafür auch jede Menge Schokoküsse von mir, Baby.«
    Eta wog zweihundert Pfund, hatte fünf Zentimeter lange, knallrosa lackierte Fingernägel
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