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Töchter des Schweigens

Töchter des Schweigens

Titel: Töchter des Schweigens
Autoren: barcelo
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Zimmern, die im Lauf der Jahre immer kleiner und vertrauter geworden waren, ist verschwunden, verschluckt von der Finsternis, und dir bleiben nur das Licht, das dir entgegenleuchtet, die geschlossenen Türen und der Weg nach vorn.
    Irgendwann öffnest du eine der Türen, und sobald sie sich hinter dir schließt, weißt du, dass du zum letzten Mal hindurchgegangen bist, dass du eine Entscheidung getroffen hast, dass der Raum, den du vor dir siehst, jetzt die Realität ist, die du erobern, durchqueren musst, um zum nächsten Saal, zur nächsten Treppe, in den nächsten Garten zu gelangen, wo sich die Pfade gabeln und, sobald du dich für einen entschieden hast, die anderen im Dunst verschwinden werden.
    Schon bist du im Labyrinth und weißt, dass du lebend nicht wieder herauskommst.
     

Juni 2007
     
    La mejor distancia es la mayor.
     
    Die beste Entfernung ist die größte.
     
     
    Joaquín Sabina, Con lo que eso duele
     
     

Obwohl sie eigentlich vorgehabt hatte, das Auto ein Stück weiter oben stehen zu lassen und zu Fuß hinunterzugehen, parkte Rita fast vor Lenas Haustür, stellte den Motor ab und blieb einige Minuten so sitzen, absurderweise auf der linken Seite, rechts den Hebel der Gangschaltung, die Hände am Lenkrad und den Blick verträumt auf die scheußliche Franziskus-Kirche gerichtet – weiß, modern in den Sechzigerjahren, äußerlich wie ein Fabrikgebäude –, die so gute Erinnerungen in ihr weckte.
    Allmählich dachte sie, dass es ein Fehler gewesen war, Ingrid allein nach Andalusien fahren zu lassen, aber nach den letzten zwei Wochen hatte sie es für eine gute Idee gehalten, eine Weile in ihrem Heimatdorf auszuspannen, mit all den Dingen wieder in Berührung zu kommen, Menschen zu treffen und Beziehungen aufleben zu lassen, die sie für immer verloren geglaubt hatte.
    Sie schaute auf die Uhr und seufzte. Fünf vor acht. Ihr blieben noch fünf Minuten, ehe sie klingeln und in Lenas Universum eintauchen würde. Lena war allem Anschein nach die Einzige von ihnen, die den Vorlieben ihrer Jugend treu geblieben war. Mechanisch, ohne zu überlegen, ob sie wirklich Lust darauf hatte, zündete Rita sich eine Zigarette an. Von Vorlieben, an denen sich seit der Jugend nichts geändert hat, musst gerade du reden!, sagte sie sich. Mit der freien Hand strich sie sich übers Haar und warf einen Blick auf den Rücksitz, auf die Flasche Rioja und das Sträußchen Wiesenblumen, die sie gekauft hatte. Ob es heutzutage in Spanien wohl üblich war, einer Freundin, die dich zum Abendessen eingeladen hatte, Wein und Blumen mitzubringen? Zu ihrer Zeit war es das nicht. Sie erinnerte sich nicht, dass ihre Eltern jemals etwas mitgenommen hätten, wenn sie gelegentlich bei befreundeten Paaren zu Gast gewesen waren. Allenfalls einen Teller Gebäck oder eine Eistorte zum Nachtisch. Aber in diesem Fall wäre das Unsinn gewesen; sie waren nur zu zweit, und in ihrem Alter sollten sie es mit Süßigkeiten nicht übertreiben. Mit Alkohol und Tabak war das etwas anderes. Allerdings war Rita überzeugt, dass Lena ihr einen Tee und eine dieser teuflisch stinkenden Heilkräuterzigaretten anbieten würde, die einem den Spaß am Rauchen verdarben.
    Sie schmunzelte, stieg aus dem Wagen, nahm die Geschenke und betrachtete versonnen die Haustür, während ihr eine Flut von Bildern durch den Kopf schoss. Wie oft war sie zwischen ihrem fünfzehnten und ihrem achtzehnten Lebensjahr durch diese Tür gegangen! Und danach … nichts. Die englische Episode. Ihr Leben. Die letzten drei Jahrzehnte.
    Sie hatte den Knopf der Gegensprechanlage noch nicht gedrückt, als ein Nachbar aus dem Haus trat, ihr die Tür aufhielt und ihr somit Gelegenheit gab, noch einen Moment im Treppenhaus zu verweilen, bevor Lena erfuhr, dass sie da war. Alles war gleich geblieben, außer dem Fahrstuhl, der früher von einem Metallgitter umgeben war und in den man heute nicht mehr hineinsehen konnte. Es roch sogar wie in ihrer Erinnerung: nach Reinigungsmitteln, aber mit einer undefinierbaren Beimischung von etwas anderem, Hunderten von sofritos vielleicht – gebratenen Zwiebeln, Knoblauch und Tomaten –, nach mediterranem Leben, das sie früher als normal empfunden hatte und das ihr jetzt so anders als ihr Alltag erschien, als etwas schmerzlich Entbehrtes, Schönes.
    Ein dunkler Fleck auf einer der Stufen jagte ihr einen solchen Schreck ein, dass sie sich sogar bückte, um sich zu vergewissern, dass es nicht das war, was sie befürchtet hatte. Wahrscheinlich
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