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Todesmelodie

Todesmelodie

Titel: Todesmelodie
Autoren: Christopher Pike
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obwohl sie lieber geschwiegen hätte. Es widerstrebte ihr, Schwächen zu zeigen. Das war mit das Schlimmste am Tod ihres Bruders gewesen – an diesem traurigen Tag, der eine ganze Ewigkeit zu dauern schien, hatte er einen Teil ihrer Seele entblößt, sie hatte bei der Beerdigung vor all den Leuten geweint. Seitdem war es nicht wieder passiert, und sie hatte auch nicht die Absicht, es jemals wieder geschehen zu lassen.
    »Und was wirst du jetzt tun?« fragte Paul.
    »Ihr Leben zerstören.«
    »Wie willst du das anstellen?«
    »Ich brauche deine Hilfe, Paul.«
    »Du landest noch im Gefängnis!«
    »Niemals«, erwiderte Ann.
    »Hast du deswegen diesen Ausflug in den Nationalpark geplant? Willst du sie die Klippen hinunterstoßen?«
    »Es geht auch, ohne sie zu berühren.«
    »Dann erzähl mir, wie, verdammt noch mal!« fuhr er sie an.
    Ann sprach ganz ruhig und überlegt. »Im Sunset Park gibt es einen Gipfel, der ›Westwind‹ heißt. Dort oben gibt es einen Felsvorsprung, der genau über dem Whipping River hängt. Am ersten Abend schlagen wir da unser Lager auf, und wenn wir dann alle ums Feuer sitzen, machen Sharon und ich einen kleinen Spaziergang – zum Rand der Klippen. Wir schauen uns die Sterne an, reden vielleicht ein bißchen über alte Zeiten, und dann werde ich Sharon sagen, daß ich gern ein paar Minuten allein wäre. Sharon geht zum Feuer zurück, und wenn sie auf halbem Weg ist, werde ich hinter einen Felsblock greifen und ein Seil an einem Karabiner befestigen, der unter meinem Sweatshirt versteckt ist. Ich rufe ›Tu’s nicht‹, so laut ich kann, und dann springe ich mit einem Urschrei von der Klippe.«
    »Du bist total verrückt!« stieß Paul hervor.
    »Das Seil, das an meinem Rücken befestigt wird, ist kein normales Seil! Die Entfernung zwischen der Spitze des Felsvorsprungs und der Wasseroberfläche beträgt genau hundertfünfzig Meter. Mein Seil ist hundertzwanzig Meter lang. Es wird fünfzehn Meter unterhalb des Felsens festgemacht. Die letzten vier Meter des Seils sind elastisch. Wenn man die Fallhöhe und mein Gewicht berücksichtigt, müßte sich das Seil am Ende noch einmal ungefähr um drei Meter dehnen. Wenn ich schließlich ruhig hänge, mache ich ein zweites Seil am Ende des ersten fest und hake es auch an den Karabiner unter meinem Sweatshirt. Es ist genau fünfzehn Meter lang, also länger als nötig, und jeder wird glauben, Sharon hätte mich in den Tod gestoßen.«
    »Kaum«, meinte Paul. »Was ist mit dem Seil, das vom Felsen herunterhängt? Alle können es sehen!«
    »Keiner wird es sehen. Ich hab’ nachgeschaut, es wird eine mondlose Nacht. Und außerdem wird das Seil ja nicht oben an der Klippe angebracht, sondern an einem Punkt fünfzehn Meter unterhalb. Ich habe es vor drei Tagen mit einem Metallhaken da oben befestigt. Und genau da brauche ich deine Hilfe: Du mußt über den Rand klettern und das Seil losmachen. Dann läßt du es fallen, und ich nehme es mit, wenn ich abhaue.«
    »Wohin?«
    »Egal wohin… Mexiko oder sonstwo, das ist ganz unwichtig. Ich werde einfach verschwinden.« Sie machte einen Schritt auf ihn zu, legte ihre Hand leicht auf seinen muskulösen Brustkorb und suchte Pauls Blick. »Du kannst mitkommen«, sagte sie.
    Er schüttelte den Kopf. »Das kann nicht klappen«, meinte er.
    Ann trat einen Schritt zurück.
    Sie war nicht gekränkt, denn sie hatte damit gerechnet, daß er Einwände machen würde. »Sag mir, warum es nicht funktionieren kann, und ich beweise dir, daß es doch geht.«
    »Es gibt tausend Gründe!«
    »Dann zähl sie bitte auf!« schlug sie vor.
    »Wenn du so tief fällst, reißt dich das Seil doch auseinander!«
    »Ich hab’ dir doch schon gesagt, daß das Seilende sich dehnt. Bergsteiger benutzen diese Art von Ausrüstung ständig.«
    »Aber Bergsteiger springen normalerweise nicht von hundertfünfzig Meter hohen Felsen!«
    »Ich werde eine Schutzweste tragen, die die Wucht des Falls auffängt.«
    »Das hilft dir wenig, wenn du an die Felswand knallst!«
    »Der Felsvorsprung hängt weit über. Meine Chancen, die Wand zu treffen, stehen bei eins zu hundert.«
    »Wohl eher fünfzig zu fünfzig! Was, wenn wir nun nicht da oben unser Lager aufschlagen? Wenn Chad woanders campen will?«
    »Chad schläft immer dort oben, wenn er auf eine Klettertour geht. Es ist einer seiner Lieblingsplätze.«
    »Und wenn noch andere Camper in der Gegend sind?«
    »Dann warten wir eben und machen es ein anderes Mal!«
    Paul schüttelte wieder den Kopf.
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