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Todeshaus am Deich

Todeshaus am Deich

Titel: Todeshaus am Deich
Autoren: Hannes Nygaard
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hat?«
    Dr. Michalke schwieg einen Moment und betrachtete
konzentriert den leblosen Körper. Den Tod hatte sie bereits festgestellt, was
bei alten Menschen manchmal ein schwieriges Unterfangen ist. Die Muskulatur war
erschlafft, der Unterkiefer herabgesunken, Puls und Herzschlag hatten
ausgesetzt. Die Augen hatten an Glanz und Spannung verloren. Sie waren
gebrochen, wie es der Laie nennt. Die Ärztin hatte an den Händen und im Gesicht
des Toten eine deutlich wahrnehmbare Abkühlung registriert.
    Mit Hilfe der beiden Krankenschwestern hatte Dr.
Michalke den Verstorbenen umgedreht und untersuchte akribisch den faltigen
Körper von oben bis unten. An den Schultern und im Gesäßbereich hatten sich
bereits erste Anzeichen von Totenflecken gebildet. Die Medizinerin drückte
vorsichtig auf einen Fleck und stellte fest, dass er sich noch verdrängen ließ.
Dies gab ihr Aufschluss über den wahrscheinlichen Todeszeitpunkt. Bei der
weiteren Untersuchung konnte sie nichts Auffälliges entdecken. Sie drehten den
alten Mann wieder auf den Rücken. Schwester Dagmar fasste nach den Zipfeln der
Bettdecke und wollte den Leichnam damit zudecken.
    »Ich verstehe nicht, was dieser ganze Zauber soll«,
empörte sich Brodersen im Hintergrund. Seiner Stimme war anzumerken, dass die
Spannung von ihm gewichen war.
    Dr. Michalke warf einen letzten Blick auf den Toten,
bevor sie überraschend Schwester Dagmars Arm ergriff und das Bedecken des
Gesichts verhinderte.
    »Moment mal«, murmelte sie, zog die Bettdecke bis auf
die Höhe der mageren Greisenbrust zurück und beäugte kritisch das Gesicht des
Toten. Sie hatte dabei die Augen ein wenig zusammengekniffen, sodass sich auf
ihrer Stirn Falten bildeten. Mit ihren schlanken Händen tastete sie den
faltigen Hals ab, dann versuchte sie ein Augenlid hochzuklappen.
    »Merkwürdig«, murmelte sie leise vor sich hin.
    Die drei anderen sahen sie schweigsam an. Nach einer
Weile räusperte sich Brodersen, bevor er als Erster das Wort ergriff.
    »Was ist merkwürdig? Der alte Schüttemann liegt
friedlich da. Er ist nach einem erfüllten Leben in aller Ruhe vor seinen
Herrgott getreten.«
    Dr. Michalke warf einen raschen Blick über die
Schulter und sah den Heimleiter an.
    »Irgendwann treten wir alle die letzte Reise an. Und
wenn diese ohne Turbulenzen abläuft, ist das vielleicht das schönste Geschenk
in einem hoffentlich langen und friedlichen Leben. Aber der Zeitpunkt sollte
schon gottgewollt sein«, sagte sie vieldeutig.
    Die beiden Schwestern sahen sich an. Überraschung lag
in diesem Blick. Brodersen hatte die Augen weit aufgerissen. Er kam einen
Schritt näher.
    »Was wollen Sie damit sagen? Haben Sie Zweifel an
einem natürlichen Tod?«
    Er unterstrich seine Worte mit ausladenden
Armbewegungen, als würde er ein großes Orchester zum Finale auffordern.
    Dr. Michalke sah ihn nicht an, sondern konzentrierte
sich weiter auf Kopf und Hals des Leichnams. Dann richtete sie sich auf. Sie
sah zu Schwester Dagmar. Die erwiderte den festen Blick der Ärztin, ohne mit
der Wimper zu zucken. Deren Kollegin, Schwester Regina, machte einen
bekümmerten Eindruck. Dr. Michalkes Blick blieb bei Broder Brodersen haften.
Sie registrierte ein zorniges Funkeln in den Augen des Heimleiters.
    »Sie haben meine Frage nicht beantwortet«, zischte er.
»Wollen Sie allen Ernstes behaupten, der alte Schüttemann ist keines
natürlichen Todes gestorben?«
    Dr. Michalke bewegte unmerklich ihre Schultern in die
Höhe.
    »Ich bin mir nicht sicher. Ich werde als Todesursache
›unklar‹ angeben.«
    »Es gibt viele Bewohner dieses Hauses, die Sie bisher
als gute Ärztin angesehen und Ihren Diagnosen stets vertraut haben. Wenn sich
herumspricht, dass Sie sich Ihrer Sache nicht sicher sind, könnte das Nachteile
für Ihre Praxis haben«, gab Brodersen zu bedenken. »Ich weiß nicht, was Sie am
natürlichen Tod eines Hochbetagten in Zweifel ziehen wollen, schließlich war
Schüttemann nicht nur seit Jahren krank, sondern auch im seligen Alter von
zweiundneunzig Jahren.« Mit dem ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand
wies der Heimleiter auf die Ärztin.
    »Wollen Sie mir drohen?«, entgegnete Dr. Michalke mit
hörbarer Verärgerung in der Stimme. »Haben Sie vielleicht einen Grund, weshalb
Sie so vehement fordern, ich soll eine natürliche Todesursache bestätigen?«
    Brodersen lief rot an. Er fuhr sich mit zwei Fingern
am Kragen seines Hemdes entlang, als wäre ihm dieser urplötzlich zu eng
geworden.
    »Das
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