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Todesfrauen

Todesfrauen

Titel: Todesfrauen
Autoren: Jan Beinßen
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unterbrochen wurde und die Stimme einer verschlafenen Sina erklang: »Pronto?«, meldete sie sich auf Italienisch, was wohl cool klingen sollte.
    »Ich bin’s, Kleines«, rief Gabriele in den Apparat. »Ich habe Arbeit für dich! Ich benötige dringend ein Dossier über den Balkankonflikt. Jedes Detail kann wichtig sein. Vor allem brauche ich verlässliche Informationen über die Sicherheitslage für Reisende aus dem Ausland.«
    Zunächst herrschte Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann sagte Sina recht flapsig: »Gabi, du schlägst schon wieder deinen Kommandeurstonfall an, der gefällt mir gar nicht. Wenn du was von mir willst, sag es vernünftig und wenigstens mit einer winzigen Prise Freundlichkeit.«
    »Also gut.« Gabriele seufzte. »Das Ganze noch mal netter: Liebe Sina …«
    »Stopp!«, fuhr die andere dazwischen. »Nicht am Telefon. Ich will zumindest eine Tasse Kaffee von dir haben und ein paar von deinen leckeren Erdnusskeksen, wenn du mich schon wieder ausnutzen willst.«
     
    Wenig später kündigte die Türklingel Sinas Erscheinen an. Die junge Frau mit dem kastanienbraunen Kurzhaarschnitt war sportlich gekleidet, trug Bluejeans, Kapuzen-Sweatshirt und Freizeitschuhe. Sie grüßte flötend und schlenderte auf ihre Freundin zu, die sich in der hinteren Ecke des Ausstellungsraums über ein größeres Exponat beugte.
    Sina kam näher und hielt Gabriele die aktuelle Ausgabe der Nürnberger Nachrichten unter die Nase. »Hast du schon gelesen?«, fragte sie. »Wir kriegen hohen Besuch. Der amerikanische Vizepräsident Al Gore kommt nach Nürnberg! Das ist doch endlich mal ’ne richtig große Sache für dieses verschlafene Nest, was?«
    Gabriele antwortete nicht, sondern konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Erst jetzt richtete Sina ihre Aufmerksamkeit auf das Ausstellungsstück und erkannte eine lebensgroße Figur des Gekreuzigten, die auf zwei nüchternen Blöcken ruhte. Es handelte sich um eine ausgesprochen gelungene Jesus-Darstellung. Sinas Hand war versucht, über das glatte, dunkelbraun getönte Lindenholz zu streichen, um Adern, Muskeln, Gelenke und Sehnen nachzufahren, den kühnen Schwung des Lendentuches zu erspüren. Atemberaubend schön erschien ihr der gotisch schlanke Körper, der sanft zur Seite geneigte Kopf, die über die Schulter fließenden Haarlocken. Das altmodische Wort Ehrfurcht fiel ihr ein.
    Die Jesus-Figur kam Sina vage bekannt vor. Sie überlegte, wo sie sie schon einmal gesehen und bewundert hatte. Sie stellte sie sich aufgehängt an einem schweren Holzkreuz vor – und dann fiel es ihr ein!
    Überrascht und erschreckt zugleich sah sie ihre Freundin an. »Das ist doch nicht etwa der Gekreuzigte von St. Lorenz? Das Meisterwerk von Veit Stoß?« Da Gabriele nicht sofort antwortete, malte sich Sina die schlimmsten Szenarien aus: »Wie bist du da rangekommen? Hast du ihn stehlen lassen? Willst du ihn auf dem Balkan absetzen und brauchst dafür meine Hilfe? Dieses Glanzstück der Nürnberger Kunstgeschichte an irgendwelche kunstverliebten Warlords verscherbeln?«
    Gabriele wartete, bis ihre Freundin genügend Dampf abgelassen hatte. Dann krümmte sie den rechten Zeigefinger und klopfte gegen den Kopf des hölzernen Jesus. »Für was hältst du mich? Das hier ist eine Kopie oder besser gesagt ein Plagiat. Ist irgendwann im ausgehenden 19. Jahrhundert entstanden und hing in einer Privatkapelle. Ich habe das gute Stück günstig erworben, aber Reichtümer kann ich mir durch den Verkauf kaum erwarten – schon gar nicht auf dem Balkan.«
    Sinas Wangen färbten sich rosa. »Oh … – Ich dachte …« Sie rieb sich verlegen die Nase. »Entschuldige, Gabi.«
    Das tat diese sogar sehr gern, denn durch den Dämpfer, den Sina soeben erfahren hatte, war sie nun viel gefügiger und offener für Gabrieles Wünsche. Sie setzten sich ins Hinterzimmer, tranken Kaffee und knusperten Erdnusskekse. Gabriele wiederholte ihre Bitte, die sie bereits am Telefon geäußert hatte.
    Sina hob etwas ratlos die Schultern. »Ich kenne mich mit diesem Krieg nicht besonders gut aus und weiß nur, dass er schon viele, viele Hundert Tote gekostet hat. Auch ohne mich in die Materie zu vertiefen, kann ich dir sagen, dass du dir einen Badeurlaub in Split zurzeit besser verkneifen solltest. Und Ć evap č i ć i isst du sicherer beim Balkangrill in der Bayreuther Straße.« Sina nippte am Kaffee und schlug vor: »Vielleicht erklärst du mir erst mal, worum es eigentlich geht?«
    Gabriele erkannte ihr Versäumnis, das
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