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Todesbraut

Titel: Todesbraut
Autoren: dtv
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Eine Beamtin des Landeskriminalamtes entsprach genau dem Bild, das ihre exaltierte Mutter so gern karikierte. Früher hatte Wencke sich dann verkrochen und ihr Magengeschwür gepflegt, seit ein paar Jahren verwahrte sie sich dagegen. Heute hatte sie einfach keine Lust auf dieses Spiel.
    »Man sollte das anders nennen. Vielleicht Schandmord?« Ihre Mutter griff nach dem Weinglas. »Wie du dich mit so einem Menschen stundenlang unterhalten kannst   …«
    »Das ist mein Job.«
    »Wer weiß, vielleicht probiert der das noch einmal? Wenn er ein Radikaler ist, wird er sich wieder über die Gesetze hinwegsetzen und seine Schwester umbringen!«
    »Genau aus dem Grunde versuche ich, das Prinzip dieser Tat zu durchschauen. Stell dir vor: dafür hat man mich hierher in die Landesbehörde versetzt. Ich soll als sogenannte Fallanalytikerin die Merkmale spezifischer Verbrechen herausarbeiten, damit man in Zukunft besser damit umzugehen lernt.«
    »Wer ist
man

    »Die Justiz, die Soziologie, meine Kollegen von der Polizei, die Experten der Operativen Fallanalyse   …«
    »Ach, hör doch auf!« Wie Wencke dieses trockene Lachen ihrer Mutter hasste. »Die sind doch alle überfordert mit diesem Thema. Erst letztes Jahr gab es die Verhandlung in Hamburg, als ein Deutsch-Afghane seine kleine Schwester mit zwanzig Messerstichen   …« Sie nahm noch einen Schluck und schüttelte den Kopf. »Das hätten deine Kollegen verhindern können, dieses junge Mädchen hat oft genug um Schutz gebeten.Aber da haben alle versagt, das ganze tolle System der Gesetzeshüter. Glaubst du, deine Analysen hätten irgendwas bewirken können?« Sie schnaubte. »Was ist denn mit der Schwester von deinem sogenannten Ehrenmörder?«
    »Ich werde sie morgen treffen.«
    »Steht sie denn wenigstens unter Personenschutz?«
    »Ich darf dir gar nicht so viel darüber erzählen, das weißt du.«
    »Die hat doch zwei Kinder, oder nicht? Habt ihr denen denn eine neue Existenz verschafft? Oder muss sie noch immer die Rache ihrer Familie fürchten, weil sie es gewagt hat, einen Ehemann zu verlassen, mit dem sie als junges Ding zwangsverheiratet wurde? Mein Gott, in was für einem Land leben wir hier eigentlich! Nichts gegen Ausländer, aber   …«
    Wencke schwieg und entspannte sich bei dem Gedanken, dass ihre Mutter morgen wieder im Zug nach Bremen saß. Seit sie in der neuen Wohnung beim Wändeanstreichen und Gardinenaufhängen half, endete jeder Abend genau so. Das nächste Mal würde Wencke lieber einen Handwerker bezahlen und dafür nach der Arbeit in Ruhe auf dem Sofa lesen.
    Natürlich hatte Wencke nicht die geringste Ahnung, ob ihr neuer Job »sinnvoll« war. Sie sollte ViCLAS füttern. Das war kein seltenes, hungriges, pflegebedürftiges Tier, sondern die Abkürzung für
Violent Crime Linkage Analysis System
, eine Datei, in der weltweit Verbrechensdaten gespeichert werden. Während man auf dem amerikanischen Kontinent bereits seit Jahrzehnten sämtliche Fälle in einem Informationspool zur Verfügung stellte, wurden Fallanalysen in Deutschland erst seit etwas mehr als zehn Jahren zusammengetragen. Und das auch nur mit halber Kraft, denn stets galt es, erst einmal die aktuellen Verbrechen aufzuklären, bevor man sich die Zeit nahm, sie zu verstehen. Wencke, durch ein Stipendium beim FBI inzwischen intensiv geschult, sollte nun Versäumtesnachholen und alte Fälle aus dem norddeutschen Bereich katalogisieren.
    Sie musste in jedem einzelnen Fall eine Chronologie erstellen, aus der hervorging, wie es zu der Tat kommen konnte, ob sie zu verhindern gewesen wäre und wo der Zeitpunkt zu finden war, an dem der Täter kein Zurück mehr kannte. Wencke musste sich in die Opfer hineinversetzen, Kontakt mit den Angehörigen aufnehmen, die ermittelnden Polizisten und Staatsanwälte kontaktieren, eventuelle Gutachten von Psychologen und Medizinern studieren. Auch in anderen Bundesländern wurde diese Arbeit inzwischen gemacht. Und wenn die Ergebnisse irgendwann einmal bei ViCLAS zusammengetragen waren, erhoffte man sich, so etwas wie ein Grundschema für ein bestimmtes Verbrechen zu erkennen. Die Charakteristik eines Ehrenmordes: Männer bedrohen ihre Frauen, Väter ihre Töchter, Söhne ihre Mütter oder – wie im Fall der Kurdin Shirin Talabani   – Brüder ihre Schwestern.
    Wencke war nicht mehr Ermittlerin, wie sie es in ihrer Zeit als Kriminalkommissarin in Ostfriesland gewesen war, sondern Forscherin, Sammlerin und Denkerin. Die Fälle, mit denen sie sich
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