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Tochter der Nacht

Tochter der Nacht

Titel: Tochter der Nacht
Autoren: Marion Zimmer-Bradley
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gealtert. Wie ich, dachte Tamino.
    Vor kaum einem Monat war Tamino noch der verwöhnte jüngere Sohn des Kaisers im Westen gewesen, der keine Mühen und Not kannte, und – abgesehen von den Spielen mit seinen Gefährten und gelegentlichen Jagden – nur wenig An-strengungen.
    Dann hatte man ihn auf diese Reise geschickt. Tamino wußte nur, daß er nach dem Willen seines Vaters den großen Tempel der Weisheit in Atlas-Alamesios aufsuchen sollte – und von dem Tempel wußte er nur, daß er ihn innerhalb eines Monats erreichen konnte –, um sich den Prüfungen zu unterziehen. Auf der Reise hatte er viel über diese Prüfungen nachgedacht. Wann würden sie beginnen? War die Reise vielleicht schon die erste Prüfung? Er hatte sich an die Anweisungen gehalten und die Berge überquert, die das Reich im Westen umgaben; er war durch das Wilde Land gewandert, die das Reich von den Ländern des Großen Atlas trennte, und in das Land der Wandlungen gekommen, das sich, nach allem, was er bisher erlebt hatte, überhaupt nicht veränderte.
    Doch nun lag er unter dem fernen Sternenhimmel und fröstelte ein wenig, denn die Nacht war kalt, und der Mantel war für das wärmere Klima seiner Heimat bestimmt gewesen und begann sich zu fragen, ob diese Wüste, ob diese Reise nicht zumindest in ihm eine Wandlung bewirkt hatte. Er war vielleicht nicht mehr ganz derselbe Tamino, der vor dreißig Tagen den Palast seines Vaters verlassen hatte. Zum einen war er dünner geworden. Noch nie zuvor hatte er eine Mahlzeit ausgelassen; auf dieser Reise waren es mehr als genug gewesen. Und wenn er etwas zu essen hatte, verdankte er es oft nur seinem Jagdgeschick.
    Er hatte vorher auch nicht gewußt, was es hieß, allein zu sein oder sich zu fürchten. Zwar war die Reise nicht übermäßig gefährlich gewesen. Aber er fühlte sich einsam; noch nie zuvor hatte es Tamino an Rat oder Gesellschaft gefehlt. Diesmal gab es niemanden, der ihm den besseren Weg wies, den sicheren Pfad in den tiefen Schluchten; niemand lenkte seine Hand oder den Pfeil, wenn er auf Wild anlegte. Man hatte ihm keinen Führer mitgegeben, sondern nur die unbestimmte Anweisung, der aufgehenden Sonne zu folgen. Er hatte keinen Ratgeber, keine Gesellschafter außer sich selbst; und er konnte nur die Erinnerung an die Lehrer seiner Kindheit befragen – inzwischen wußte er nur allzu deutlich, daß er zu wenig Gebrauch von ihrem Wissen gemacht hatte.
    Doch Tamino fürchtete sich nicht mehr wie am Beginn der Reise, und er empfand auch nicht mehr das Bedürfnis, sich mit jemandem zu unterhalten. Ebensowenig vermißte er den Rat eines anderen. Es kam ihm vor, als sei inzwischen nicht nur sein Körper gestählter, sondern auch sein Geist und seine Entschlossenheit seien besser entwickelt und zu-verlässiger. Wenn er jetzt den Bogen spannte, und der Pfeil durch die Luft schwirrte, wußte Tamino, er würde das Ziel treffen. Es war kein Spiel mehr, kein Wettstreit, in dem er seine Überlegenheit unter Beweis stellte, und bei dem die Gefährten, die der Kaiser für seinen Sohn ausgewählt hatte, meist zögerten, ihn zu übertreffen. Wenn der Pfeil hier in der Wüste zu weit flog, mußte er wahrscheinlich hungrig einschlafen und später jeden verirrten Pfeil mühsam suchen, denn es gab keinen Ersatz.
    Nein, dachte er, ich bin immer noch Tamino, aber vermutlich ein stärkerer Tamino. Und vielleicht – dies dachte er nur zögernd und beinahe beschämt – bin ich würdiger, Prinz genannt zu werden. Selbst wenn auf dieser Reise nichts weiter geschah, selbst wenn er nur an den Rand der Welt gelangen sollte, wo es nichts gab als das endlose salzige Meer, wenn die Prüfungen sich nur als ein Trug erwiesen und ihm nichts anderes übrigblieb, als umzukehren und wieder nach Hause zu ziehen, würde er die Reise nicht als vergeblich ansehen oder sie gar bedauern.
    Tamino lag auf dem Rücken und blickte hinauf zu den Sternen. Er konnte sich nicht daran erinnern, im Palast seines Vaters den Sternen je mehr Beachtung geschenkt zu haben, als den prächtigen Laternen, die die Decken schmückten vielleicht sogar noch weniger, denn hin und wieder mußte er anordnen, daß die Laternen erneuert oder ausgetauscht wurden.
    Im Verlauf dieser Reise hatte er mehr Sonnenaufgänge, Sonnenuntergänge, hatte er Sonne, Mond und Sterne öfter gesehen als je zuvor. Inzwischen verließ er sich auf sie: Ein klarer Himmel und strahlende Sonne wiesen ihm den Weg; wenn Mond und Sterne schienen, konnte er im Freien schlafen und
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