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Tiere essen

Tiere essen

Titel: Tiere essen
Autoren: Jonathan Safran Foer
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suchen in aller Frühe in der Kälte Himmel und Unterholz nach den gefiederten Liebesobjekten ab. Katzenfreunde legen in ihren Liebesbekundungen eine Heftigkeit an den Tag, die in den meisten menschlichen Beziehungen – Gott sei Dank – fehlt. Kinderbücher sind voll von Kaninchen, Mäusen, Bären und Raupen, ganz zu schweigen von Spinnen, Grillen und Krokodilen. Plüschspielzeug in Steinform will niemand haben, und wenn ein begeisterter Briefmarkensammler von seiner Liebe zu Briefmarken spricht, ist das eine völlig andere Art von Zuneigung.
    Wir nahmen den Welpen mit nach Hause. Ich umarmte ihn – sie – von der anderen Zimmerseite aus. Dann, weil er – sie – mir Grund zu der Annahme gab, dass ich keine Finger verlieren würde, durfte sie mir aus der Hand fressen. Dann durfte sie mir die Hand lecken. Und dann das Gesicht. Und dann leckte ich ihr das Gesicht. Heute liebe ich alle Hunde und werde bis an mein Lebensende glücklich und zufrieden sein.
    63 Prozent aller amerikanischen Haushalte haben mindestens ein Haustier. Dieser hohe Prozentsatz beeindruckt vor allem, weil das Phänomen relativ neu ist. Das Halten von Haustieren ging mit dem Erstarken der Mittelschicht und der Urbanisierung einher, vielleicht weil infolgedessen der Kontakt zu anderen Tieren verloren ging oder schlicht weil Haustiere Geld kosten und deshalb ein Symbol für Wohlstand sind (Amerikaner geben jährlich 34 Milliarden Dollar für ihre Haustiere aus). Der in Oxford leh rende Historiker Sir Keith Thomas, dessen umfassendes Werk Man and the Natural World heute als Klassiker gilt, sagt dazu:
    die Verbreitung der Haustierhaltung unter den städ tischen Mittelschichten in der frühen Moderne … ist eine Entwicklung von sozialer, psychologischer und sogar kommerzieller Bedeutung … Sie hatte auch auf geistiger Ebene Folgen, denn sie animierte die Mittel schichten zu positiven Urteilen über tierische Intelli genz; sie führte zu zahllosen Anekdoten über tierische Klugheit; sie förderte die Vorstellung, dass Tiere Cha rakter und individuelle Persönlichkeit besitzen kön nen; und sie schuf die psychologische Basis für die Auf fassung, dass zumindest einige Tiere ein Recht darauf haben, in moralischer Hinsicht betrachtet zu werden.
    Es wäre falsch zu sagen, dass meine Beziehung zu George mir die »Klugheit« von Tieren offenbart hätte. Abgesehen von ihren grundlegenden Bedürfnissen habe ich nicht die leiseste Ahnung, was in ihrem Kopf vorgeht. (Obwohl ich mittlerweile überzeugt bin, dass, abgesehen von grundlegenden Bedürfnissen, sehr viel darin vorgeht.) Ihre mangelnde Intelligenz überrascht mich genauso oft wie ihre Intelligenz. Die Unterschiede zwischen uns sind immer präsenter als die Ähnlichkeiten.
    George ist kein Schoßhündchen, das nur gehätschelt werden und kuscheln möchte. Sie kann einem ziemlich oft höllisch auf die Nerven gehen. Sie befriedigt sich ständig vor Gästen, knabbert meine Schuhe und die Spielsachen meines Sohnes an, tötet mit Begeisterung Eichhörnchen, hat die einzigartige Fähigkeit, sich bei jedem Foto, das in ihrer Nähe gemacht wird, vor die Linse zu setzen, stürzt sich auf Skateboarder und chassidische Juden, demütigt menstruierende Frauen (und ist der schlimmste Albtraum menstruierender chassidischer Jüdinnen), presst ihren stinkenden Hintern an den am wenigsten interessierten Menschen im Raum, gräbt frisch Gepflanztes aus, zerkratzt neu An geschafftes, schleckt an Essen, das aufgetragen werden soll, und rächt sich manchmal (nur wofür? ), indem sie ins Haus kackt.
    Unsere diversen Kämpfe – zu kommunizieren, die Wünsche des anderen wahrzunehmen und darauf einzugehen, miteinander zu leben – zwingen mich, mit etwas, oder besser, jemand völlig Fremdem umzugehen und zu interagieren. George ist in der Lage, auf eine gewisse Anzahl Wörter zu reagieren (und zieht es vor, eine etwas größere Anzahl zu überhören), aber unsere Beziehung findet fast gänzlich auf der außersprachlichen Ebene statt. Sie scheint Gedanken und Gefühle zu haben. Manchmal meine ich, sie zu verstehen, oft aber auch nicht. Wie ein Foto kann sie mir nicht sagen, was sie mir zeigt. Sie ist ein Gestalt gewordenes Rätsel. Und für sie bin ich vermutlich auch ein Foto.
    Erst gestern Abend blickte ich von meinem Buch hoch und sah, dass George mich aus einer Zimmerecke anstarrte. »Wann bist du denn hier reingekommen?«, fragte ich. Sie senkte ihren Blick und trottete durch den Flur davon – nicht so sehr als
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