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Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Thennberg oder Versuch einer Heimkehr

Titel: Thennberg oder Versuch einer Heimkehr
Autoren: Gyoergy Sebestyen
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sie in ihrer dritten Gestalt, als Tote, sich vorstellen konnte, all den Toten ähnlich, die er während der letzten Jahre gesehen hatte, erst als der Körper leblos dalag, erstarrt, sinnlos, hilflos, erstda war er in dieser ersten Liebschaft und also auch in Thennberg endlich zu Hause. Der offene Mund des toten Adalbert Friedländer war zugleich der zum Keuchen geöffnete, im Keuchen erstarrte Mund der Helene Wallach. Münder, Körperöffnungen, behaarte, unbehaarte, Körper und Körper: sie schoben sich glitschig übereinander. Auch das war ein Spiel.
    Unter seinem Fuß kräuselte sich die lehmig gelbe Oberfläche einer Lache, das Wasser stieg empor und senkte sich wieder. Hartgetrocknete Brotscheiben klapperten in der Rocktasche. Wenn er sie alle aufgegessen hatte, kam der Fisch an die Reihe, der Bach und der Stein und der Fisch. Äste knarrten. Er sah einen Mann, der ihn ansah.

S
    päter, viel später gab der Bauunternehmer Heinrich Moravec vor dem Untersuchungsrichter Doktor Zahidil unter anderem etwa folgendes zu Protokoll:
    Ich habe ihn nicht erkannt. Man könnte sagen, ich habe ihn nicht erkennen wollen, aber das stimmt nicht. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, war er dreizehn oder vierzehn. Das war im Jahre neunzehnhundertsiebenunddreißig. Der Direktor Kranz und seine Familie wohnten jeden Sommer im Schloss. Das heißt, der Direktor Kranz, Ferdinand hieß er, war meistens nicht da. Er kam zum Wochenende, oder er kam überhaupt nicht. Man sagte, er betrüge seine Frau. Man sagte, es ziehe ihn ins Ausland, in feine Kurorte, ans Meer. Man sagte, er gönne sich keinen Urlaub, er sei vom Geldverdienen besessen. Man munkelte vieles. Die Frau war eine feine Dame, aber ein wenig komisch. Sie war nicht gerade verrückt. Ganz normal war sie auch nicht. Man sagte, sie schreibe in einem fort Briefe, vier oder fünf Briefe am Tag. Man sagte, sie wolle niemals richtig essen, sie ernähre sich hauptsächlich von Tee und Biskotten. Sie blieb jeden Abend sehr lange wach. Im Schloss brannte noch um zwei Uhr nachts Licht. Es ist öfters vorgekommen, dass sie nachts telefonieren wollte. In solchen Fällen schickte sie das Stubenmädchen zur Post. Das Stubenmädchen musste mitten in der Nacht aufstehen, um zur Post zu gehen, und dann musste der Postmeister aufstehen, denn nachts gibt es bei uns sonst keine Verbindung. Er hieß Veit Wallach. Er ist in Russland gefallen. (Ich selbst musste nicht einrücken; wegen eines Jagdunfalls ist seit meinem neunzehnten Lebensjahr mein linkes Bein umsechs Zentimeter kürzer als das rechte.) Es ist aktenkundig, dass ich Wallachs Witwe geheiratet habe. Sie ist neunzehnhundertdreiundvierzig an Magenkrebs gestorben. Ihre Tochter aus erster Ehe, Liselotte Wallach, war damals dreizehn. Sie hieß dann Moravec. Auf sie komme ich später noch zu sprechen. Ihr Vater also, Veit Wallach, stieg aus dem Bett, ging auf die Post und stellte die Verbindung her, so dass Frau Kranz telefonieren konnte. Er bekam Geld dafür, angeblich viel. Frau Kranz sprach meistens mit einer Dame in Zürich. Wallach sagte, die Dame in Zürich sei die Schwester von Frau Kranz. Er hörte mit. Vielleicht sagte er das nur, um den wirklichen Tatbestand zu verschleiern. Aus Höflichkeit sozusagen. Er hatte ja Geld genommen. Man erzählte, Frau Kranz sei in die Dame in Zürich verliebt. Seelenfreundschaft, so etwas soll ja zwischen Frauen vorkommen. Oder lesbisch. Einerlei. De mortuis nil nisi bene. Einmal, vielleicht im Fünfunddreißigerjahr, wohnte auch die Dame aus Zürich im Schloss. Ausnahmsweise war gerade in jenen Wochen auch Direktor Kranz anwesend. Vielleicht war die Dame aus Zürich seine Geliebte. Es soll vorkommen, dass Männer mit zwei Frauen zur gleichen Zeit leben, und dass sich die beiden Frauen dabei gut vertragen. Zu gut. Ich kann mir so etwas nicht vorstellen, aber bei Leuten wie der Familie Kranz könnte es ja anders zugegangen sein.
    Das Schloss, in dem sie wohnten, ist gar kein Schloss, man nennt es nur so, weil es dem alten Baron Ammer gehörte. Danach hat es seinem Sohn gehört. Jetzt gehört es mir.
    Denjungen Baron haben wir niemals gesehen. Oder kaum. Er hatte ein Gesicht, das man sich nicht merken konnte: rosige Haut, rundes Kinn, graue Augen. Er trug karierte Anzüge. Er hatte ein leises Stimmchen. Er war immer erkältet. Er war später bei den Nazis. Sein Vater ist auf unserem Friedhof begraben. Als sein Sohn zu den Nazis ging, drehte sich der Alte vermutlich im Grab um. Der alte Baron Ammer war
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