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The Cutting

The Cutting

Titel: The Cutting
Autoren: James Hayman
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blauen Augen, die gleichen vollen Lippen – ein richtiger Schmollmund, nur dass Kyra, Gott sei Dank, so gut wie nie schmollte. Unter anderem aufgrund dieser Ähnlichkeit hatte er überhaupt angefangen, sich für sie zu interessieren. Er fragte sich, ob sie sich wohl über den Vergleich freuen würde.
    Sie blieben vor einem jungen Straßenmusiker stehen, der mit dem Rücken gegen die Backsteinwand eines kleinen Juweliergeschäfts gelehnt auf dem Bürgersteig saß. Er spielte auf einer sehr sorgfältig polierten Geige. Ein handgemaltes Pappschild, das ebenfalls an der Hauswand lehnte, wies ihn als Studienabbrecher des berühmten Juilliard-Konservatoriums aus. Sie hörten ihm zwanzig, dreißig Sekunden lang zu. Dann warf McCabe ein paar Dollarscheine in seinen offenen Geigenkasten, und sie gingen weiter.
    »Du hast ja gute Laune.«
    »Warum nicht? Es ist ein wunderschöner Abend. Ich bin mit einer wunderschönen Frau zusammen. Er beherrscht sein Instrument, und das Stück gefällt mir. Mozart. Violinkonzert.« Hier musste McCabe nachdenken, aber nur eine Sekunde lang. »Nummer drei.«
    Nicht, dass er sich mit klassischer Musik besonders gut auskannte. Keineswegs. Von Musiktheorie oder den unterschiedlichen Kompositionsstilen hatte er keine Ahnung. Er hörte sich auch nur gelegentlich das eine oder andere Stück an. Aber sein Gehirn funktionierte einfach ziemlich seltsam. Egal, was er sah oder hörte, er vergaß es in der Regel nie wieder. Sie gingen weiter, während die seidigen, sinnlichen Töne der Geige in ihrem Rücken langsam verklangen.
    McCabe wusste, dass Kyra zu Beginn verunsichert gewesen war, als sie gemerkt hatte, dass er ganze Abschnitte aus Büchern oder Ermittlungsakten, die er vor Monaten einmal gelesen hatte, wortwörtlich zitieren konnte. Sie nahm an, dass er ein fotografisches Gedächtnis besaß, aber er verneinte das. »So was gibt es nicht«, sagte er. »Es ist bis jetzt noch nie nachgewiesen worden, dass das Gehirn ein Bild sozusagen ›fotografieren‹ und immer wieder ›sehen‹ kann.«
    »Du kannst dich an alles erinnern?«
    »Bloß an die Dinge, die mich interessieren. Ich habe ein sogenanntes eidetisches Gedächtnis. Mein Gehirn ist außergewöhnlich effizient darin, Informationen zu systematisieren und so abzuspeichern, dass es jederzeit wieder darauf zugreifen kann.«
    Sie gingen weiter die Exchange Street entlang und kamen an einem schwarz-weißen Streifenwagen vorbei, der im absoluten Halteverbot stand. Hinter dem Steuer saß eine junge Polizistin mit rundem Gesicht. Sie lächelte, als sie McCabe und seine Begleiterin, ganz offensichtlich seine Freundin, sah. »Hallo, Sergeant, wie geht’s?«, rief sie ihm zu.
    Er erwiderte ihr Lächeln. »Und Sie sind heute Abend das wachsame Auge des Gesetzes?«
    »Ja, Sie wissen schon, Freitagabend eben. Noch ein paar Stunden, dann kommen die Besoffenen aus den Kneipen getorkelt.«
    Im Arno war es, wie erwartet, voll und laut. Zwei oder drei Grüppchen standen an der Tür und warteten darauf, an ihren Tisch geführt zu werden. Da sie für ihre Reservierung eine Viertelstunde zu früh dran waren, schlenderten McCabe und Kyra in die kleine Bar, wo ganze Horden junger Manager-Typen – Männer und Frauen – um die besten Plätze rangelten. Im Regal hinter der Theke registrierte er die charakteristische gedrungene Form einer Dalwhinnie-Flasche. Das war einer seiner Lieblings-Whiskys und nicht oft zu bekommen. Er gab dem Barkeeper ein Zeichen und bestellte für sich einen Doppelten ohne Eis und, ohne dass er fragen musste, ein Glas Sancerre für Kyra. Er warf ihr einen Blick zu und sah, dass sie mit Gloria Kelwin, einer ihrer Bekannten aus der lokalen Künstlerszene, ins Gespräch gekommen war. Gloria besaß eine Galerie, und McCabe war ihr schon öfter begegnet. Er stellte sich dazu und reichte Kyra den Wein.
    »Oh, hallo, Michael«, gurrte Gloria und beugte sich nach vorne, um mit ihren Lippen McCabes Wange zu streifen. »In letzter Zeit irgendwelche Schurken hinter Gitter gebracht?« Sie sprach auf eine affektierte Weise, die McCabe jedes Mal auf den Geist ging. Ohne seine Antwort abzuwarten, wandte sie sich wieder Kyra zu. Glorias Galerie »North Space« stellte unter anderem auch Kyras Gemälde und Drucke aus, und Kyra hoffte auf eine Solo-Ausstellung, in der ausschließlich ihre Werke präsentiert würden. McCabe betrachtete ihr Gesicht, das so voll Energie und Lebendigkeit war, während sie eine neue Serie von Körperstudien beschrieb, an der sie
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