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Tausend strahlende Sonnen

Tausend strahlende Sonnen

Titel: Tausend strahlende Sonnen
Autoren: Khaled Hosseini
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er mit Farhad und Muhsin ein tiefes Loch aus und baute ein Plumpsklo darüber.
    Zum Bau der kolba hätte Jalil, wie Nana sagte, auch Arbeiter anheuern können, was er aber nicht tat.
    »Das ist seine Vorstellung von Buße.«
    Laut Nana hatte sie am Tag der Geburt ihrer Tochter keinerlei Hilfe gehabt. Es sei an einem feuchten, wolkenverhangenen Tag im Frühjahr 1959 gewesen, sagte sie, im sechsundzwanzigsten Jahr der vierzig Jahre währenden und fast durchweg ereignislosen Regentschaft von König Sahir Schah. Sie sagte, Jalil habe sich nicht um einen Arzt gekümmert, nicht einmal um eine Hebamme, obwohl er wusste, dass der Dschinn in sie einzufahren und ein Anfall die Geburt zu gefährden drohte. Sie lag mutterseelenallein und mit schweißnassem Körper auf dem Boden der kolba , ein Messer griffbereit.
    »Wenn die Schmerzen nicht mehr auszuhalten waren, habe ich in ein Kissen gebissen und mich heiser geschrien. Und es kam niemand, der mir den Schweiß vom Gesicht gewischt oder zu trinken gegeben hätte. Und du, Mariam jo , hattest keine Eile. Du hast mich fast zwei Tage lang auf dem kalten, harten Boden liegen lassen. Ich konnte weder essen noch schlafen; ich konnte nur pressen und beten, dass du bald kommen würdest.«
    »Tut mir leid, Nana.«
    »Ich habe eigenhändig die Nabelschnur durchtrennt. Dafür hatte ich das Messer.«
    »Tut mir leid.«
    Nana trug immer ein müdes, gequältes Lächeln im Gesicht; ob es von stillen Vorwürfen zeugte oder von der zögerlichen Bereitschaft zu verzeihen, wusste Mariam nie zu unterscheiden. Es kam der jungen Mariam nicht in den Sinn, es als unfair zu erachten, dass sie sich für die Umstände ihrer Geburt entschuldigen musste.
    Als ihr dieser Gedanke dann doch schließlich in den Sinn kam – um die Zeit, als sie zehn Jahre alt wurde –, mochte sie an die Geschichte ihrer schweren Geburt nicht mehr glauben. Sie glaubte vielmehr der Version Jalils, der sagte, dass er zwar nicht zugegen gewesen sei, aber für Nanas Betreuung in einem Krankenhaus in Herat gesorgt habe, wo ihr in einem hellen Zimmer ein frisch bezogenes Bett zur Verfügung gestellt worden sei. Als Mariam ihm von dem Messer erzählte, schüttelte Jalil nur traurig den Kopf.
    Mariam fing auch daran zu zweifeln an, dass sie die Mutter zwei volle Tage hatte leiden lassen.
    »Mir wurde gesagt, dass es keine Stunde gedauert hat«, erklärte Jalil. »Du bist ein gutes Mädchen, Mariam jo . Schon bei der Geburt warst du ein gutes Mädchen.«
    »Er war nicht einmal zur Stelle!«, spuckte Nana aus. »Er war im Takht-e-Safar, auf einem Ausritt mit seinen teuren Freunden.«
    Als ihm von der Geburt seiner Tochter berichtet worden sei, sagte Nana, habe Jalil nur mit den Schultern gezuckt, den Hals seines Pferdes getätschelt und noch weitere zwei Tage im Takht-e-Safar zugebracht.
    »Tatsache ist, dass du schon einen Monat alt warst, als er dich das erste Mal auf den Arm nahm, und das auch nur, um einen einzigen Blick auf dich zu werfen und sich über dein längliches Gesicht zu mokieren. Dann gab er dich mir zurück.«
    Auch an diesem Teil der Geschichte begann Mariam zu zweifeln. Zugegeben, sagte Jalil, er sei im Park von Takht-e-Safar gewesen, habe aber nicht mit den Schultern gezuckt, als ihm Mariams Geburt mitgeteilt worden sei. Nein, er habe sich sofort in den Sattel geschwungen und sei nach Herat zurückgeritten. Er habe sie in seinen Armen geschaukelt, mit dem Daumen ihre flockigen Augenbrauen nachgezeichnet und ein Wiegenlied gesummt. Mariam konnte sich nicht vorstellen, dass Jalil eine abfällige Bemerkung über ihr Gesicht gemacht hatte, obwohl es in der Tat recht lang geraten war.
    Nana behauptete, dass sie den Namen Mariam gewählt habe, weil das der Name ihrer Mutter gewesen sei. Jalil hingegen sagte, er sei auf den Namen gekommen, denn Mariam werde auch die Nachthyazinthe genannt, und das sei eine wunderschöne Blume.
    »Deine Lieblingsblume?«, fragte Mariam.
    »Nun, eine meiner Lieblingsblumen«, antwortete er und lächelte.

3
    Eine der am weitesten zurückreichenden Erinnerungen von Mariam war das Geräusch eisenbeschlagener Karrenräder auf felsigem Grund. Einmal im Monat kam dieser Karren, beladen mit Reis, Mehl, Tee, Zucker, Speiseöl, Seife und Zahnpasta. Er wurde geschoben von zwei Halbbrüdern Mariams, meist von Muhsin und Ramin, manchmal auch von Ramin und Farhad. Auf der steilen Strecke bergan wechselten sich die Jungen beim Schieben ab, bis sie den Fluss erreichten, wo der Karren geleert und seine
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