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Tatjana

Tatjana

Titel: Tatjana
Autoren: M Cruz Smith
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Nachbarn. Aufläufe wie dieser hätten die Glotzer an ihre Fenster treiben sollen.
    Die Demonstranten entzündeten Kerzen und trugen Fotos, die Tatjana als nachlässig hübsche Frau an einem Schreibtisch zeigten, lesend in einer Hängematte, beim Spaziergang mit einem Hund, an vorderster Front in einemKriegsgebiet. Sergei Obolenski, ihr ehemaliger Chefredakteur, war an der Spitze der Demonstranten. Dank seines geschorenen Schädels, des gepflegten Bartes und der Nickelbrille war er leicht zu erkennen. Arkadi und er waren sich einmal begegnet und hatten einander absolut nicht leiden können. Durch ein Megafon rief der Chefredakteur: »Wo ist Tatjana? Was versucht man uns zu verheimlichen?«
    Anja und ihre Kamera schienen überall auf einmal zu sein. Arkadi musste sie am Ärmel packen.
    »Du hast mir nichts davon erzählt.«
    »Weil du doch nur gesagt hättest, ich solle nicht mitgehen«, gab sie zurück. »Auf diese Weise haben wir Streit vermieden. Die Polizei behauptet, sie sei vom Balkon gesprungen und habe sich das Leben genommen. Wir haben eine unabhängige Autopsie verlangt, und jetzt behaupten sie, die Leiche sei unauffindbar. Wie können sie eine Leiche verlieren?«
    »Sie verlieren schon seit Jahren Leichen. Das ist eine ihrer Funktionen. Viel wichtiger ist, ob ihr eine Genehmigung für diese Demonstration habt. Ohne Genehmigung könnte sie als Provokation betrachtet werden.«
    »Sie ist eine Provokation, Arkadi. Im Geiste von Tatjana Petrowna soll sie genau das sein. Warum machst du nicht mit?«
    Während Arkadi noch zögerte, tauchte Obolenski auf. »Was tust du hier hinten, Anja? Ich brauche dich vorne, um Fotos zu machen.«
    »Moment, Sergei. Erinnerst du dich an Ermittler Renko? Er marschiert mit uns.«
    »Ach ja? Der eine gute Apfel unter all den verfaulten. Wir werden ja sehen, ob das stimmt.« Obolenski salutierte spöttisch vor Arkadi und wandte sich dann einer Gruppe Studenten zu, die sich der Demonstration anschließen wollten.
    »Wir haben mindestens zweihundert Demonstranten«, berichtete Anja.
    »Du hättest es mir sagen sollen.«
    »Ich kannte deine Antwort, und du hast mich nicht enttäuscht.«
    Für sie war alles einfach, dachte er, tiefschwarz oder schneeweiß. Sie war im Vorteil, da er nie diese Reinheit der Überzeugung besessen hatte. Wenn sie ein verwöhntes Kind war, dann war er ein Miesmacher, ein Spielverderber. Als Journalistin wollte Anja nahe beim Geschehen sein, während Arkadi ein Mann auf dem Rückzug war. Sie gab nicht vor, treu zu sein, und er erwartete es auch nicht. Ihre Liebesbeziehung war flüchtig. Durch reinen Zufall überlappten sich die Ränder ihres jeweiligen Lebens. Erwartungen gab es nicht.
    »Geh nach Hause, Arkadi«, sagte Anja.
    Obolenski kam zurück, legte ihr besitzergreifend die Hand auf den Arm und führte sie zu einer Bank, auf der ein Mann mit Megafon gegen den Wind anbrüllte. Arkadi dachte, Tatjana Petrowna hätte beim Anblick dieser Leute gelächelt, die ihr hier die letzte Ehre erweisen wollten. Alles Intellektuelle mittleren Alters. Chefredakteure, die ihre Autoren im Stich ließen, Autoren, die für die Schublade schrieben, Künstler, die wohlhabend geworden waren, weil sie Sozialrealismus in Kitsch verwandelten.
    Er überlegte, welche Anschuldigungen man ihnen sonst noch entgegenschleudern könnte. Dass sie einst eine besondere Generation gewesen waren, die das tote Gewicht eines Imperiums abgeworfen hatte? Dass sie Romantiker waren, die über ein Stelldichein mit der Geschichte lamentierten, die nie stattgefunden hatte? Dass sie so matschig geworden waren wie ein verfaulter Kürbis? Dass sie alt waren? Dass sie sich um Tatjana scharten, nachdem sie tot war, sich aber von ihr ferngehalten hatten, als sie noch lebte?
    Arkadi kam es so vor, als brauchte Obolenski keine Hunderte Demonstranten, er brauchte Tausende. Wo waren die jungen Menschen, die twitterten und texteten und mit ihren iPhones Tausende zu Demonstrationen zusammentrommelten? Wo waren die Liberalen, Kommunisten, Putin-Gegner, Lesben und Schwulen? Im Vergleich dazu war Obolenskis Demonstration eine Gartenparty. Ein Altersheimausflug.
    Wenn es nach Arkadi gegangen wäre, hätte er jetzt alle nach Hause geschickt. Nichts, worauf er den Finger hätte legen können, nur ein atmosphärisches Ungleichgewicht, das auf Entladung wartete. Ein Protest war passend, weil Tatjana eine Unruhestifterin gewesen war. Sie hatte Korruption unter Politikern und bei der Polizei angegriffen. Ihr Lieblingsziel
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