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Tatjana

Tatjana

Titel: Tatjana
Autoren: M Cruz Smith
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endete an einem einsamen Parkplatz mit einem verrammelten Kiosk und einer Anzeigetafel für vergangene Veranstaltungen. Ein Eiswagen lag umgekippt da. Alles zeugte vom Ennui der Nachsaison. Dennoch stieg er vom Rad, als er Möwen kreischen hörte, trug es über einen Dünenkamm und sah vor sich einen Strand, der sich zu beiden Seiten ins Unendliche erstreckte. Sanfte Wellen schwappten ans Ufer, Nebel verwandelte das Meer und den Himmel in lichte, blaue Bänder. Sand wirbelte im Wind auf und schmiegte sich an den Strandhafer zwischen den Dünen. Grob gezimmerte Sonnenschirme ohne Bespannung standen Wache, doch kein Mensch war zu sehen, perfekt für Joseph.
    Er legte das Rad in den Sand und nahm seinen Helm ab. Das hier war ein echter Fund. Die Art von Miniabenteuer, aus dem sich eine gute Geschichte für einen Abend am Kamin machen ließ, mit einem Glas Rotwein und faszinierten Zuhörern. Ein wenig Wagemut, um seine Karriere zu krönen. Ihr »Bedeutung« zu verleihen, das war das richtige Wort.
    Trotz der kühlen Luft war es Joseph warm vom Radeln, und er zog seine Radfahrschuhe und Socken aus. Der Sand war fein, nicht wie die steinigen Strände vieler Urlaubsorte, und unverschmutzt, vielleicht weil Kaliningrad während des Kalten Krieges eine geschlossene Stadt gewesen war. Wasser rauschte heran, zischte um seine Füße und zog sich wieder zurück.
    Seine Träumerei wurde durch das Näherkommen eines Fahrzeugs unterbrochen, das wie ein betrunkener Seemann über den Strand torkelte. Der Metzgerwagen. Das Plastikschwein, rosa und grinsend, wackelte hin und her, bis der Kastenwagen zum Stehen kam und ein Mann ausstieg, etwa dreißig Jahre alt, mit einem Homburg auf dem Kopf und strähnigem Haar. Eine dreckige Schürze umflatterte ihn.
    »Suchen Sie Bernstein?«
    »Warum sollte ich Bernstein suchen?«, fragte Joseph.
    »Hier ist genau die richtige Stelle. Aber Sie müssen auf einen Sturm warten. Sie müssen auf einen Sturm warten, der den Bernstein aufwühlt.«
    » Hochwühlt « , nicht » aufwühlt « , dachte Joseph, behielt es aber für sich. Er spürte nichts, was ihn mit diesem Mann verband, keinen Intellekt, für den sich die Anstrengung lohnen würde. Früher oder später würde der Kerl Geld für Wodka von ihm verlangen, und das wär’s dann.
    »Ich warte auf Freunde«, sagte Joseph.
    Der schief sitzende Homburg verlieh dem Metzger etwas Groteskes. Er wirkte benommen oder betrunken, jedenfalls so belustigt über einen privaten Witz, dass er über das Fahrrad stolperte.
    »Idiot! Passen Sie doch auf, wo Sie hintreten!«, knurrte Joseph.
    »Tut mir leid, wirklich. Sagen Sie, ist das ein italienisches?« Der Metzger hob das Fahrrad am Vorderrad hoch. »Ist ja wunderschön. Von denen sieht man nicht viele in Kaliningrad.«
    »Woher soll ich das wissen?«
    »Sie können’s mir glauben.«
    Joseph bemerkte, dass die Hände des Metzgers vom Umgang mit Gefrierfleisch zerschrammt und aufgerissen waren und seine Schürze die entsprechenden dunklen Flecken aufwies, obwohl seine Sandalen kaum das geeignete Schuhwerk für rutschige Kühlräume waren.
    »Können Sie mir bitte das Fahrrad geben? Sand in der Gangschaltung kann ich wirklich nicht gebrauchen.«
    »Kein Problem.« Der Metzger ließ das Rad fallen und fragte strahlend: »Urlaub?«
    »Wie bitte?«
    »War nur eine Frage. Machen Sie hier Urlaub, oder sind Sie geschäftlich da?«
    »Urlaub.«
    Das Gesicht des Metzgers zeigte ein breites Grinsen. »Wirklich? Sie sind nach Kaliningrad gekommen, um Urlaub zu machen? Sie verdienen einen Orden.« Er tat so, als heftete er Joseph einen Orden an die Brust. »Was sind die Highlights von Kaliningrad? Na los, erzählen Sie mir, was Sie sich heute Morgen angeschaut haben.«
    Joseph hatte den ganzen Morgen gearbeitet, wobei das zwar niemanden etwas anging, aber der Metzger hatte eine vernickelte Pistole gezogen, die er wie loses Kleingeld in der Hand wog. Was Joseph als kühlende Brise empfunden hatte, ließ ihn jetzt frösteln, und Sandkörner klebten am Schweiß auf seiner Haut. Vielleicht ging es hier nur um eine gewöhnliche Erpressung. Kein Problem. Er würde zahlen, was immer verlangt wurde, und es sich vom Kunden ersetzen lassen.
    »Sind Sie von der Polizei?«
    »Sehe ich aus wie die verdammte Polizei?«
    »Nein.« Joseph sank der Mut. Er war dazu ausgebildet, bei Geiselnahmen ruhig und kooperativ zu sein. Die Statistiken waren insgesamt beruhigend. Menschen kamen nur um, wenn jemand versuchte, sich als Held aufzuspielen.
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