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Tatjana

Tatjana

Titel: Tatjana
Autoren: Tathana Cruz Smith
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fallen. Niemand verharrte. Die Aussicht auf ein Bankett an Bord einer Weltklasse-jacht war unwiderstehlich, und nach wenigen Minuten standen nur noch Arkadi, Viktor und die Totengräber am Grab. Erde prasselte hinab. Grischa Grigorenko und seine Rosen verschwanden.
    »Hast du das gesehen?« Viktor deutete auf den Grabstein.
    Arkadi richtete seinen Blick auf den Stein. Offenbar war nur auf ein Datum gewartet worden, denn in den glänzenden Granit war bereits ein lebensgroßes, fotorealistisches Porträt von Grischa eingemeißelt. Er trug eine Kapitänsmütze, und unter dem offenen Hemdkragen waren ein Kruzifix und Ketten zu sehen. Der eine Fuß ruhte auf der Stoßstange eines Jeep Cherokee. In der Hand hielt er einen echten Autoschlüssel.
    »Dieser Stein kostet mehr, als ich in einem Jahr verdiene«, sagte Viktor.
    »Tja, ihm wurde der Kopf weggepustet, falls dich das tröstet.«
    »Ein bisschen.«
    »Aber warum wurde er erschossen?«, fragte Arkadi.
    »Warum nicht? Gangster haben ein begrenztes Haltbarkeitsdatum. Jetzt, da Grischa aus dem Weg ist, steht Kaliningrad weit offen. Niemand glaubt, dass Alexi das Zeug hat, die Stadt zu halten. Das sind keine Schuljungen. Wenn Alexi klug ist, kehrt er auf die Business School zurück. Willst du auf die Jacht?«
    »Nein, ich glaube nicht, dass ich meinen Neid noch länger unterdrücken kann. Ich würde gerne ein bisschen bleiben.«
    Viktor schaute sich um. »Ruhig, friedlich, die ganze ländliche Idylle. Mach das nur. Ich werde nach der Jacht suchen und in den Fluss pissen.«
    Sobald Viktor verschwunden war, wandte sich Arkadi an die Totengräber. Sie waren immer noch verärgert über die Reiberei mit Anjas Freunden.
    »Das war eine Demonstration. Man darf nicht ohne Genehmigung demonstrieren.«
    Arkadi wollte sich keinesfalls in Anjas Angelegenheiten einmischen, konnte sich die Frage aber nicht verkneifen: »Eine Demonstration wogegen?«
    »Wir haben denen gesagt, dass es keine Rolle spielt, wie berühmt jemand ist. Eine Selbstmörderin bleibt eine Selbstmörderin und kann nicht in geweihter Erde begraben werden.«
    »Selbstmord?«
    »Fragen Sie die. Die ganze Gruppe läuft auf den Taganskaja zu. Sie können sie noch einholen.«
    »Wessen Selbstmord?«
    »Der von Tatjana.«
    Der andere Totengräber nickte zustimmend. »Eine Unruhestifterin bis zuletzt.«
    Vor dem Tor teilten sich Ape Beledons Söhne einen Joint.
    »Der Alte lässt uns warten, als wäre er die verdammte Königin von England und wir der Prinz von Wales. Wann lässt er uns übernehmen? Ich sag dir, wann. Nie.«
    »Echte Autorität.«
    »Echte Autorität wird dir nicht übertragen.«
    »Man nimmt sie sich. Man übt sie aus.«
    »Man zeigt sie wie, du weißt schon, ›Noch eine tolle Nacht hier in Babylon‹.«
    » Scarface. Tony Montana. Nennst du das einen kubanischen Akzent?«
    »›Willst du mich verarschen? Willst du was auf die Fresse? Okay. Sag Hallo zu meinem kleinen Freund.‹ Und dann pustet er sie weg.«
    »Ich muss die DVD schon hundertmal gesehen haben.«
    Ein Husten.
    »Lass dich nicht von Ape dabei erwischen, dass du den Scheiß rauchst.«
    »Führt sich auf wie ein beschissener Schulmeister.«
    »Scheiß auf Ape.«
    »Und scheiß auf Alexi. Kriegt alles auf dem Silbertablett serviert.«

2
    A ls Arkadi die Demonstranten eingeholt hatte, waren sie auf über hundert angewachsen und hatten ihren Zielort erreicht, die Sackgasse, in der die Journalistin Tatjana Petrowna vor einer Woche in den Tod gestürzt war. Die Häuser waren alle gleich: sechs Stockwerke trister Beton, mit abgestorbenen Bäumchen, die eingepflanzt und vergessen worden waren. Eine Bank und eine Wippe waren mit Vogelkot bekleckert, doch die Eingangsstufen, auf denen sie gelandet war, hatte man geschrubbt und mit Bleiche behandelt.
    Niemand war verhaftet worden, obwohl ein Fernsehreporter, der bei den Demonstranten geblieben war, atemlos spekulierte, Petrownas konfrontativer Reportagestil habe seine Risiken. Er könne die Möglichkeit nicht ausschließen, dass die Journalistin sich aus Publicitygründen das Leben genommen habe. Offiziell wurde es als Selbstmord dargestellt.
    Arkadi war auf die Angelegenheit aufmerksam geworden, weil Tatjana Petrownas Nachbarn sie hatten schreien hören. Selbstmord erforderte normalerweise Konzentration. Menschen, die Selbstmord begingen, zählten Tabletten, starrten fasziniert auf das ausströmende Blut, sprangen schweigend aus großer Höhe. Sie schrien nur selten. Außerdem sah Arkadi keine
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