Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
1979. Ich hatte kein einziges Buch gelesen, nicht eine Zeitung aufgeschlagen. Ich hörte keine Musik. Sah nicht fern, schaltete kein Radio an. Sah niemanden, sprach mit niemandem. Ich trank kaum. Mir stand einfach nicht der Sinn danach. Ich hatte keine Ahnung, was draußen in der Welt vor sich ging, wer berühmt geworden war, wer gestorben war. Nicht etwa, dass ich Informationen kategorisch ablehnte, ich hatte einfach nur kein Bedürfnis, irgendetwas zu erfahren. Obgleich ich natürlich merkte, dass die Welt sich weiterdrehte. Auch wenn ich reglos in meinem Apartment hockte, spürte ich es auf der Haut. Wie eine lautlose Brise, die an mir vorbeiwehte. Auf dem Boden sitzend, beschwor ich im Geiste die Vergangenheit herauf. Es klingt komisch, aber ich tat nichts anderes, Tag für Tag für Tag, ein halbes Jahr lang. Und dennoch empfand ich dabei weder Überdruss noch Langeweile. All das, womit ich fertig werden musste, schien mir so gewaltig, so komplex zu sein. Gewaltig, aber vor allem wirklich. Zum Anfassen real. Wie ein nächtlich angestrahltes Monument. Ein Monument, das einzig und allein für mich da stand. Ich untersuchte das gesamte Geschehen unter allen möglichen Blickwinkeln. Die Ereignisse hatten mir natürlich ziemlich übel mitgespielt. Es war kein geringer Schaden. Viel Blut war geflossen, lautlos. Mit der Zeit ließen einige Qualen nach, andere kamen erst später hoch. Und dennoch hatte ich mich dieses halbe Jahr nicht verkrochen, um meine Wunden zu lecken. Es war auch keine autistische Ablehnung der Außenwelt. Ich brauchte einfach Zeit. Ich brauchte ein halbes Jahr, um all das, was mit den Ereignissen zusammenhing, konkret – im praktischen Sinne – auf die Reihe zu kriegen. Um es zu überprüfen. Nein, es war keine autistische Anwandlung, keine strikte Absage an die Welt. Einfach nur eine Frage der Zeit. Ich brauchte pure, physische Zeit, um wieder auf die Beine zu kommen.
    Welchen Sinn es hatte, mich wieder aufzubauen, und welche Richtung ich danach ansteuern sollte, so weit dachte ich gar nicht. Das war ein völlig anderes Thema. Darüber konnte ich mir später den Kopf zerbrechen. Zunächst ging es nur darum, mein Gleichgewicht wiederherzustellen.
    Sogar mit meinem Kater sprach ich kaum ein Wort.
    Ein paarmal klingelte das Telefon. Ich ließ es klingeln.
    Wenn jemand an die Tür klopfte, machte ich nicht auf.
    Es kamen auch einige Briefe. Mein Expartner schrieb mir, er mache sich Sorgen um mich, da er nicht wisse, wo ich steckte, was ich tat. Deshalb versuche er, mich erst einmal über diese Anschrift zu erreichen. Ob er irgendetwas für mich tun könne? Sein Geschäft liefe ganz gut. Er erwähnte Neuigkeiten über gemeinsame Freunde. Ich musste den Brief mehrmals lesen, bis ich begriff, was darin stand. Bestimmt vier, fünf Mal. Dann legte ich ihn in die Schreibtischschublade.
    Meine Exfrau schrieb mir ebenfalls. Es ging um irgendwelche konkreten Dinge. Auch ihr Ton war ganz und gar pragmatisch. Am Schluss erwähnte sie, dass sie wieder heiraten würde. Jemanden, den du nicht kennst, schrieb sie. Und vermutlich auch nie kennen lernen wirst, hätten ihre schroffen Zeilen weiter lauten können. Was übrigens bedeutete, dass sie sich von dem Typen getrennt hatte, mit dem sie zum Zeitpunkt unserer Scheidung zusammen gewesen war. Na ja, kein Wunder, dachte ich. Ich kannte ihn recht gut, eine Kanone war er nicht gerade. Er spielte Jazzgitarre, war jedoch nicht sonderlich begabt. Auch als Mensch war er ziemlich fade. Mir war schleierhaft, was sie an ihm fand – aber das war schließlich deren Problem. Um mich mache sie sich keine Sorgen, schrieb sie. Sie sei überzeugt, es würde mir gut gehen, egal, was ich anpackte. Sie spare sich die Sorgen lieber für diejenigen auf, die zukünftig in meinen Bannkreis gerieten. Darüber mache sie sich in letzter Zeit ziemlich viele Gedanken.
    Ich las den Brief mehrmals und legte ihn dann ebenfalls in die Schublade.
    So floss die Zeit dahin.
    Finanziell gab es keine Probleme. Ich hatte genug Ersparnisse, um ein halbes Jahr davon zu leben, und über später zerbrach ich mir jetzt nicht den Kopf. Der Winter war vorbei, der Frühling hielt Einzug. Ein warmes, friedliches Licht durchflutete mein Zimmer. An dem Einfallswinkel der Sonnenstrahlen konnte ich ablesen, wie der Sonnenstand sich allmählich veränderte. Der Frühling weckte alte Erinnerungen. An Menschen, die mich verlassen hatten oder gestorben waren. Ich dachte an die Zwillinge. Ich hatte mit den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher