Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tanz mit dem Schafsmann

Tanz mit dem Schafsmann

Titel: Tanz mit dem Schafsmann
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
deshalb wiederum keinen richtigen. Was immer sie bei sich hatte – und das war so gut wie nichts –, es stand kein Name darauf. Sie hatte weder einen Bahnausweis – noch einen Führerschein oder eine Kreditkarte. Lediglich ein kleines Notizbuch, in das jedoch nur unleserliche Hieroglyphen hineingekritzelt waren. Es gab keinen Anhaltspunkt für ihre Identität. Nutten mögen Namen haben, aber sie leben in einer Welt, die davon nichts zu wissen braucht.
    Ich wusste jedenfalls so gut wie nichts über sie. Weder ihren Geburtsort noch ihr wahres Alter oder ihren Geburtstag. Auch nichts über ihren schulischen und familiären Hintergrund. Null. Unvorhersehbar wie ein Regenschauer war sie aufgetaucht und wieder verschwunden, nur um Erinnerungen zurückzulassen.
    Doch jetzt nimmt die Erinnerung an sie eine neue Wirklichkeit an. Eine fühlbare Wirklichkeit, die wachgerufen wird durch das Hotel Delfin. Ja, sie hält erneut nach mir Ausschau, verlangt nach mir. Und nur indem ich noch einmal ein Bestandteil des Hotels Delfin werde, kann ich ihr wieder begegnen. Offensichtlich ist sie es, die um mich weint.
    Während ich die Regentropfen beobachte, denke ich darüber nach, dass ich in etwas enthalten sein soll. Und auch darüber, dass jemand um mich weint. In einer Welt, die schrecklich weit entfernt liegt. Als handelte es sich um Ereignisse auf dem Mond. Letztendlich war es ein Traum. Egal, wie weit ich meine Hand ausstrecke, egal wie schnell ich laufe, ich werde wohl nie dort ankommen.
    Weshalb sollte jemand um mich weinen?
    Dennoch, sie verlangt nach mir. Irgendwo im Hotel Delfin. Und in einem Winkel meines Herzens wünsche ich es mir ja selbst – Teil dieses Orts zu werden, Teil dieses skurrilen, verhängnisvollen Schauplatzes.
    Es ist allerdings nicht so leicht, wieder ins Hotel Delfin zu gelangen. Einfach nur telefonisch ein Zimmer zu bestellen, in ein Flugzeug zu steigen und nach Sapporo zu fliegen – damit ist es nicht getan. Das Hotel ist eben nicht nur ein Ort, sondern zugleich ein Zustand. Ein Zustand in Form eines Hotels. Dorthin zurückzukehren bedeutet, sich erneut mit den Schatten der Vergangenheit zu konfrontieren. Allein die Aussicht darauf deprimiert mich. Ich habe in den letzten vier Jahren alles getan, um diesen schaurigen, düsteren Schatten loszuwerden, ihm zu entkommen. Die Rückkehr zum Hotel Delfin heißt, alles im Stich zu lassen, was ich in diesem Zeitraum gehortet habe. Nicht dass ich Großartiges erreicht hätte, um Himmels willen. Wie man es auch betrachtet, das meiste davon ist ohnehin nur provisorischer, der Bequemlichkeit dienender Kram. Nun gut, ich habe für mich das Beste daraus gemacht. Mit etwas Gerümpel habe ich es geschafft, auf geschickte Weise eine Verbindung zur Realität herzustellen und mir ein neues Leben aufzubauen, das auf ganz anspruchslosen Wertvorstellungen meinerseits beruht. Sollte ich das alles zum Fenster hinausschmeißen? Und tatsächlich noch einmal bei null anfangen?
    Doch letzten Endes hat alles dort begonnen. Das ist mir inzwischen klar geworden. Also muss die Geschichte wieder dort beginnen.
    Ich rollte mich auf den Rücken, starrte an die Decke und seufzte. Ach, gib’s auf, dachte ich. Gib’s auf, grübeln hilft nicht. Es liegt nicht in deiner Hand, mein Junge. Was immer du dir zusammenspinnst, du musst dort wieder anfangen. Es ist bereits besiegelt. Unausweichlich.
    Ich möchte etwas über mich erzählen.
    Mich vorstellen, sozusagen.
    Das war früher in der Schule so Brauch. Wenn sich eine neue Klasse formierte, bin ich, sobald ich an der Reihe war, brav nach vorne gegangen und habe vor der versammelten Mannschaft so allerlei über mich preisgegeben. Ich hasste das. Außerdem sah ich überhaupt keinen Sinn darin. Was wusste ich schon über mich? War jenes Ich, das mir über mein Bewusstsein zugänglich war, mein wirkliches Ich? War mein Selbstbild nicht nach eigenem Gutdünken zurechtgestutzt und völlig verzerrt wahrgenommen? Genauso unecht wie der Klang der eigenen Stimme bei einer Tonbandaufnahme? Es war mir immer suspekt gewesen. Jedes Mal wenn ich mich vorstellen, den anderen etwas über mich erzählen sollte, kam es mir vor, als würde ich mein eigenes Zeugnis nach Belieben ummodeln. Ich war meiner selbst nie sicher gewesen. Deshalb hatte ich stets darauf geachtet, nur objektive Fakten, die keiner Erläuterung und Sinngebung bedurften, zu berichten. (Ich habe einen Hund. Ich schwimme. Ich mag keinen Käse. Und so weiter.) Dabei hatte ich immer das
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher