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Tanz der seligen Geister (German Edition)

Tanz der seligen Geister (German Edition)

Titel: Tanz der seligen Geister (German Edition)
Autoren: Alice Munro
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aufgedreht, die sich in der trockenen Luft hoffentlich bald auflösen werden, auf meinem Kopf sitzt eine große, steife Haarschleife. Es ist völlig anders als ein Spaziergang mit meinem Vater nach dem Abendbrot. Wir sind noch nicht an zwei Häusern vorbeigegangen, und schon habe ich das Gefühl, dass wir die Zielscheibe des allgemeinen Spotts sind. Sogar die Schimpfwörter, die mit Kreide auf den Bürgersteig gekritzelt worden sind, lachen uns aus. Meine Mutter scheint das nicht zu bemerken. Sie schreitet gemessen wie eine Dame zu ihren Einkäufen, wie eine feine Dame, vorbei an den Hausfrauen in weiten Kleidern ohne Gürtel, aber dafürmit Löchern unter den Armen. Mit mir, ihrem Geschöpf, scheußliche Locken und protzige Haarschleife, sauber gewaschene Knie und weiße Söckchen – all das, was ich nicht sein will. Ich hasse sogar meinen Namen, wenn sie ihn öffentlich ausspricht, mit hoher, stolzer, weit tragender Stimme, die sich absichtlich von den Stimmen aller anderen Mütter auf der Straße abhebt.
    Meine Mutter bringt manchmal als besondere Leckerei eine Schachtel Eiscreme mit – blasses Fürst-Pückler-Eis; und weil wir keinen Kühlschrank im Haus haben, wecken wir meinen Bruder auf und verspeisen es sofort im Esszimmer, in das kaum Licht fällt, weil das Nachbarhaus so dicht daneben steht. Ich löffle mein Eis bedachtsam, hebe mir die Schokolade bis zum Schluss auf und hoffe, dass ich noch etwas übrig haben werde, wenn der Teller meines Bruders leer ist. Meine Mutter versucht dann, sich wieder so mit mir zu unterhalten wie damals in Dungannon und kehrt zu unserer allerersten, geruhsamsten Zeit zurück, bevor mein Bruder geboren wurde, als sie mir ein bisschen Tee mit viel Milch in einer Tasse wie der ihren gab und wir draußen auf den Stufen saßen, mit Blick auf die Pumpe, den Fliederbusch und die Fuchskäfige dahinter. Sie kann nicht anders, sie muss immer wieder von dieser Zeit reden. »Weißt du noch, wie wir dich auf deinen Schlitten gesetzt haben und Major dich gezogen hat?« (Major war unser Hund, den wir bei Nachbarn lassen mussten, als wir wegzogen.) »Erinnerstdu dich noch an deine Sandkiste draußen vor dem Küchenfenster?« Ich tue so, als könnte ich mich kaum noch an etwas erinnern, auf der Hut davor, mich in die Falle der Zuneigung oder irgendeines anderen unerträglichen Gefühls locken zu lassen.
    Meine Mutter hat häufig Kopfschmerzen. Sie muss sich oft hinlegen. Sie legt sich auf das schmale Bett meines Bruders in dem kleinen, schattigen Wintergarten mit den dichten Zweigen darüber. »Ich schaue in den Baum hoch und bilde mir ein, ich bin zu Hause«, sagt sie.
    »Was du brauchst«, sagt mein Vater zu ihr, »das ist frische Luft und eine Fahrt aufs Land.« Er meint, sie soll ihn auf seiner Walker Brothers-Tour begleiten.
    Das entspricht nicht der Vorstellung meiner Mutter von einer Fahrt aufs Land.
    »Kann ich mitkommen?«
    »Deine Mutter braucht dich vielleicht zur Anprobe.«
    »Nähen geht heute Nachmittag über meine Kräfte«, sagt meine Mutter.
    »Dann nehme ich sie mit. Ich nehme beide mit, dann kannst du dich ausruhen.«
    Was haben wir an uns, dass man sich von uns ausruhen muss? Egal. Ich bin schon froh, dass ich meinen Bruder finde, ihn dazu bringe, auf die Toilette zu gehen, und uns beide ins Auto verfrachte, unsere Knie ungewaschen, meine Haare ungelockt. Mein Vater holtdie zwei schweren braunen Koffer mit den vielen Flaschen aus dem Haus und legt sie auf den Rücksitz. Er trägt ein weißes Hemd, das in der Sonne leuchtet, eine Krawatte, eine helle Hose, die zu seinem Sommeranzug gehört (sein anderer Anzug ist schwarz, für Beerdigungen, und gehörte meinem verstorbenen Onkel) und einen cremefarbenen Strohhut. Seine Vertreterkleidung, mit Stiften in der Brusttasche. Er geht noch einmal zurück, wahrscheinlich, um sich von meiner Mutter zu verabschieden, sie zu fragen, ob sie bestimmt nicht mitkommen will, und sie sagen zu hören: »Nein. Nein, danke, es ist besser für mich, einfach hier mit geschlossenen Augen zu liegen.« Dann fahren wir vom Hof mit einer kleinen Hoffnung auf Abenteuer, die uns über den Huckel kurz vor der Straße hinwegträgt, die heiße Luft beginnt sich zu bewegen, verwandelt sich in eine Brise, die Häuser werden allmählich fremder, während mein Vater eine Abkürzung nimmt, den schnellen Weg aus der Stadt hinaus. Doch was erwartet uns den ganzen Nachmittag lang außer heiße Stunden auf den Höfen armseliger Farmen, vielleicht ein Halt vor
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