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Tante Julia und der Kunstschreiber

Tante Julia und der Kunstschreiber

Titel: Tante Julia und der Kunstschreiber
Autoren: Mario Vargas Llosa
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hatte. Auf den Gehsteigen hatte eine wimmelnde Menge von Männern und Frauen, viele von ihnen mit Ponchos und Bauernröcken, vor sich auf dem Boden Decken und Zeitungen ausgebreitet oder aus Kartons, Dosen und Leinentuch Stände improvisiert, wo sie alle nur denkbaren Dinge verkauften, von der Nähnadel und der Brosche bis zu Kleidern und Anzügen und natürlich alle möglichen Gerichte, die dort auf kleinen Feuerstellen zubereitet wurden. Diese Avenida Abancay war einer der Plätze in Lima, die sich am stärksten verändert hatten. Sie war jetzt belebt und sah beinahe indianisch aus, nicht selten konnte man in dem starken Geruch von siedendem Öl und Gewürzen Quechua sprechen hören. Sie glich in nichts mehr der breiten, ernsten Allee mit den Büroangestellten und dem einen oder anderen Bettler, durch die ich zehn Jahre zuvor, als ich noch ein kleiner Student war, zur Nationalbibliothek zu gehen pflegte. Hier, in diesem Stück Lima, konnte man das Problem der Abwanderung der Landbevölkerung in die Stadt in aller Schärfe sehen und geradezu berühren. Die Bevölkerung von Lima hatte sich in diesen zehn Jahren verdoppelt, und auf den Hügeln, den Sandflächen und Müllhalden entstand dieser Kranz von Elendsvierteln, wo Tausende und Abertausende von Menschen landeten, die wegen der Dürren, der harten Arbeitsbedingungen, wegen des Hungers und weil ihnen jede Zukunftsperspektive fehlte, die Provinz verließen.
    Während ich dieses neue Gesicht der Stadt kennenlernte, ging ich die Avenida Abancay hinunter in Richtung Parque Univer-sitario und das, was früher die Universität von San Marcos gewesen war (die Fakultäten waren in die Vororte von Lima gezogen, und das Gebäude, in dem ich Literatur und Jura studiert hatte, beherbergte jetzt ein Museum und Büros). Ich tat das nicht nur aus Neugier und aus einer gewissen Nostalgie, sondern auch aus literarischem Interesse, denn in dem Roman, an dem ich arbeitete, spielten einige Episoden im Parque Universitario, in dem Gebäude von San Marcos und in den antiquarischen Buchhandlungen, den Billardstuben und elenden Cafés rundherum. Ausgerechnet an jenem Morgen stand ich wie ein Tourist vor der hübschen Capilla de los Pröceres und beobachtete die Händler – Schuhputzer, Leute, die Gewürzkuchen, Eis, Sandwiches verkauften –, als mich jemand beim Arm nahm. Es war – zwölf Jahre älter, aber immer noch der alte – der Große Pablito.
    Wir umarmten uns kräftig. Er hatte sich wirklich nicht verändert: er war immer noch derselbe stämmige und fröhliche Cholo mit der asthmatischen Atmung, der die Füße beim Gehen kaum vom Boden hob und durchs Leben zu schlurfen schien. Er hatte kein einziges graues Haar, obwohl er bestimmt fast sechzig Jahre alt sein mußte, und sein Haar war mit Pomade eingeschmiert und sorgfältig, wie bei einem Argentinier aus den vierziger Jahren, glatt an den Kopf geklebt. Aber jetzt war er sehr viel besser gekleidet als zu der Zeit, als er (theoretisch) Journalist von Radio Panamericano war. Er trug einen grünkarierten Anzug, eine leuchtende Krawatte (es war das erste Mal, daß ich ihn mit einer Krawatte sah) und blankgeputzte Schuhe. Ich freute mich so sehr, ihn zu sehen, daß ich ihm vorschlug, zusammen einen Kaffee trinken zu gehen. Er nahm an, und wir saßen schließlich an einem Tisch im Palermo, einem kleinen Bar-Restaurant, das auch zu meinen Erinnerungen aus den Universitätsjahren gehörte. Ich sagte, daß ich ihn nicht zu fragen brauche, wie das Leben mit ihm umgesprungen sei, denn es genüge, ihn zu sehen, und man wisse, daß es ihm gut gehe. Er lächelte zufrieden – am Zeigefinger trug er einen goldenen Ring mit einem Inkamuster:
    »Ich kann mich nicht beklagen«, nickte er. »Nach all der Schinderei hat sich mein Stern im Alter gewendet, aber erlauben Sie mir, als erstes ein Bier zu trinken auf die große Freude, Sie wiederzusehen.« Er rief den Kellner, bestellte ein gut gekühltes Pils und lachte auf, was seinen üblichen Asthmaanfall provozierte. »Man sagt, wer heiratet, geht vor die Hunde. Bei mir war es umgekehrt.«
    Während wir unser Bier tranken, erzählte der Große Pablito mit den Pausen, die seine Bronchien von ihm forderten, daß die Genaros ihn, als das Fernsehen nach Peru kam, zum Portier mit granatfarbener Uniform und Mütze in dem Gebäude machten, das sie in der Avenida Arequipa für den Kanal 5 gebaut hatten.
    »Vom Journalisten zum Portier, das sieht aus wie eine Degradierung.« Er hob die Schultern. »Und das
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