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Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition)

Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition)

Titel: Tages-Deal: Kudamm 216 - Erbsünde (German Edition)
Autoren: Nika Lubitsch
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ihrem Bruder Sigurd Sprengler die letzte Ehre zu erweisen. Nils hatte beschützend seinen Arm um sie gelegt. Nils war der Sohn des Verstorbenen, Lindas Partner, ihr Kronprinz. Es waren Linda und ihr Neffe Nils, die die Familie des Toten repräsentierten. Sigurds Frau und seine Tochter standen etwas abseits.
    Obwohl die Morgensonne die Luft bereits auf 20 Grad erwärmt hatte, fröstelte Linda leicht und zog die schwarze Seidenstola ein wenig fester um sich. Ein Hubschrauber donnerte über ihre Köpfe. Vielleicht war es dieses Geräusch, das sie zurückbrachte zu ihrer ersten Beerdigung.
    September 1948. Über ihren Köpfen dröhnten die Flugzeuge der Alliierten. Später würde man die Flugzeuge „Rosinenbomber“ nennen. Sie kannten diesen Begriff damals noch nicht, ihr Bruder Siggi allerdings alle Flugzeugtypen. „Eine Douglas C-54“, sagte er mit Kennermiene, wenn wieder einmal die Luft unter den Motoren eines Flugzeuges vibrierte. Die „Rosinenbomber“ landeten im Drei-Minutentakt. „Sie bringen uns etwas zu essen und Kohle für Strom, sie helfen uns, die Blockade zu überleben“, hatte Papa ihnen erklärt. „Die Sowjets haben die Zufahrtswege in die Westzonen von Berlin blockiert, wir werden von den Amerikanern und Engländern mit einer Luftbrücke am Leben erhalten.“ Er sagte sonst nicht viel in diesem Jahr.
    Siggi und Linda waren allein auf sich gestellt. Auf Zehenspitzen schlichen sie durch das abgedunkelte Haus, um bloß Mami nicht zu stören. Gerda, ihr Hausmädchen, schickte sie in den Garten. Man konnte herrlich spielen in diesem riesigen Garten zwischen der Klinik ihres Vaters und der Remise, in der sie wohnten. Noch schöner konnte man allerdings auf den zwei Nachbargrundstücken spielen, in den Trümmern der abgebrannten Häuser, in denen jetzt üppig Blutweiderich und Nachtkerzen blühten. Ihr Haus hatte wie durch ein Wunder nur ein paar Granatsplitter abbekommen.
    Sie war acht Jahre alt und ihr zwei Jahre älterer Bruder war ihr Held. Siggi hatte sie immer bei der Hand genommen. „Komm, Lindi, komm, du schaffst das“, hatte er wieder und wieder gesagt, als sie auf der Flucht vor der Sowjetarmee aus dem Memelland gewesen waren. Ohne Siggi wären sie niemals zurück nach Berlin gekommen. Mami dagegen war immer nur müde.
    „ Komm, Lindi, wir spielen Beerdigung“, hatte Siggi an diesem Tag zu ihr gesagt, nachdem sie bei Gerda büschelweise wilde Pfefferminze abgeliefert hatten, die sie auf dem Nachbargrundstück gepflückt hatten.
    „ Wen sollen wir denn beerdigen?“, fragte Linda.
    „ Na Klara, natürlich“, sagte Siggi und zeigte auf ihre zerrupfte Puppe. Ein paar Tage zuvor hatte sie an ihrer zu Tode geknuddelten Puppe Klara ihre erste Amputation versucht. Operation gelungen, Patient tot.
    Chirurgenkinder.
    Sie machten sich mit Eifer ans Werk. Hinten am Goldulmenhain, der ihr Grundstück von einem Trümmergrundstück abgrenzte, hoben sie eine Grube aus, so wie sie es hundertmal während der Flucht aus dem Memelland bei den Erwachsenen gesehen hatten. Auf dem Hängeboden hatten sie eine verstaubte Schuhschachtel gefunden, in die sie Klara betteten. Siggi formte aus zwei abgebrochenen Ästen und einem Weidenzweig ein Kreuz.
    „ Wir brauchen Blumen“, sagte Siggi und Linda riss den Teerosen unter dem Küchenfenster die Köpfe ab. Siggi trug die Schuhschachtel feierlich zu der Grube und sie lief im Gänsemarsch hinter ihm, andächtig die gelben Rosen in ihrem Rock wie in einem Korb tragend.
    „ Ade, zur guten Nacht, jetzt wird Schluss gemacht, dass ich muss scheiden“, sang er dabei. Und Linda fiel laut und falsch ein: „Im Sommer, da wächst der Klee, im Winter, da schneit ʼ s den Schnee, da komme ich wie-hi-da.“
    Das Kinderlied versank gnädig in dem Lärm einer C-47. Ihr Bruder musste damals bereits gewusst haben, dass ihre Mutter sterben würde. Was Mami wohl gefühlt hatte, oben in ihrem Bett, als sie durch die offenen Fenster hörte, wie Siggi sagte: „Ruhe in Frieden“? Sie starb drei Wochen später.
    „ Mami kann jetzt in deinen Kopf gucken, sie weiß immer, was du denkst“, hatte Siggi damals gesagt.
    Nils holte Linda zurück aus ihren Gedanken. „Da kommen Bernie und Alice“, sagte er. Nils hatte seinen Patenonkel Bernie immer angehimmelt: Bernie, besser bekannt als Bernhard Goldsmith, einer der bedeutendsten Dirigenten der Gegenwart. Obwohl er seit mehr als vierzehn Jahren von Alice geschieden war, stützte er ihre alte Freundin.
    Es waren so viele Menschen
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