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Sünden der Nacht

Sünden der Nacht

Titel: Sünden der Nacht
Autoren: Tami Hoag
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halb übergestreift, die Handtasche über der Schulter und hielt den Autoschlüssel in der Hand. Sie eilte den Gang zur westlichen Tür des Krankenhauses entlang, den Blick starr nach vorne gerichtet. Sie redete sich ein, wenn sie keinen
    Augenkontakt hätte, würde man sie nicht erwischen, sie wäre unsichtbar, sie würde entkommen.
    Ich hör mich schon an wie Josh. Solche Spiele mag er – was, wenn wir uns unsichtbar machen könnten?
    Hannah schmunzelte. Josh und seine Fantasie. Gestern abend hatte sie ihn in Lilys Zimmer gefunden, wo er seiner Schwester gerade eine Abenteuergeschichte von Zeek the Meek und Super Duper erzählte, Figuren, die Hannah für Josh erfunden hatte, als er noch kaum laufen konnte. Er setzte die Tradition fort, erzählte 12
    Geschichten mit großer Begeisterung, während Lily
    daumenlutschend in ihren Gitterbett saß, und mit erstaunten blauen Augen an den Lippen ihres Bruders hing.
    Ich hab zwei tolle Kinder. Zwei auf der Plusseite. Momentan bin ich für alles dankbar.
    Das Glück verblasste, und Hannahs Magen krampfte sich
    zusammen vor Nervosität. Sie blinzelte und merkte, dass sie einfach dastand, am Ende des Ganges, den Mantel halb
    angezogen. Rand Bekker, Leiter der Wartungsabteilung, kam durch die Tür und ließ einen Schwall kalter, klarer Luft herein.
    Der stämmige, rotbärtige Mann zog sich seine flammendrote Jagdmütze vom Kopf und schüttelte sich wie ein großer nasser Ochse, als könnte er so die Kälte loswerden.
    »Tag, Dr. Garrison. Feine Nacht da draußen.«
    »Wirklich?« Ihr Lächeln erfolgte mechanisch, leer, als würde sie mit einem Fremden reden. Aber es gab keine Fremden im Deer Lake Gemeinde-Krankenhaus. Jeder kannte jeden.
    »Da können Sie drauf wetten. Sieht gut aus für den
    Snowdaze.«
    Rand grinste, unzweifelhaft freute er sich auf das Festival wie ein Kind auf Weihnachten. Snowdaze war ein großes Ereignis für eine kleine Stadt wie Deer Lake, eine willkommene
    Abwechslung für die fünfzehntausend Einwohner in der
    Monotonie von Minnesotas langem Winter. Hannah versuchte, sich auch ein bisschen dafür zu begeistern. Sie wusste, dass Josh sich auf das Snowdaze freute, ganz besonders auf den
    Fackelzug. Aber momentan hatte sie Schwierigkeiten mit der Fröhlichkeit.
    Die meiste Zeit fühlte sie sich müde, ausgelaugt, entmutigt.
    Und über allem lag ein Film von Angestrengtheit wie
    Klarsichtfolie, weil sie keines dieser Gefühle zeigen durfte.
    Menschen waren von ihr abhängig, schauten auf zu ihr, sahen sie als Vorbild für arbeitende Frauen.
    13
    Hannah Garrison: Ärztin, Mutter, Frau des Jahres, die all diese anspruchsvollen Rollen mit Geschick und Leichtigkeit und dem Lächeln einer Schönheitskönigin jonglierte. In letzter Zeit waren die Titel eine schwere Bürde geworden, schwer wie
    Bowlingkugeln, und ihre Arme wurden zusehends matter.
    »Harter Tag?«
    »Wie bitte?« Sie gab sich einen Ruck und versuchte, sich wieder auf Rand zu konzentrieren. »Tut mir leid, Rand. Es war einer von diesen Tagen.«
    »Dann lass ich Sie besser gehen, ich hab ein heißes Date mit einem Wasserboiler.«
    Hannah murmelte auf Wiedersehen, als Bekker durch die Tür mit der Aufschrift ›Nur für Bedienungspersonal‹ verschwand und sie alleine im Gang zurückließ. Ihre innere Stimme, die Stimme des kleinen Trolls, der die Klarsichtfolie über ihren Emotionen festzurrte, stieß einen Schrei aus.
    Hau ab! Hau sofort ab! Flieh solang du kannst! Hau ab! Sie musste zu Josh, unterwegs würden sie anhalten und Pizza besorgen, dann zum Babysitter: Lily abholen. Nach dem
    Abendessen war Josh zum Religionsunterricht zu chauffieren …
    Aber ihr Körper weigerte sich, dem Fluchtbefehl Folge zu leisten. Und dann war es zu spät.
    »Dr.
    Garrison in die Notaufnahme! Dr.
    Garrison in die
    Notaufnahme!«
    Der egoistische Teil von ihr muckte noch einmal auf, sagte ihr, sie könnte immer noch entkommen. Heute abend hatte sie keinen Dienst, hatte keinen Patienten in diesem Hundert-Betten-Etablissement, um den sie sich dringend persönlich kümmern müsste. Sie könnte die Arbeit dem diensthabenden Arzt, Craig Lomax, überlassen. Der glaubte ohnehin, er hätte das Licht dieser Welt erblickt, um bloßen Sterblichen zu Hilfe zu eilen und sie mit seinem Staraussehen zu trösten. Hannah war heute abend nicht mal für Notfälle zuständig.
    14
    Aber direkt diesen Gedanken auf den Fersen folgten die Schuldgefühle, sie hatte einen Diensteid geleistet. Es spielte keine Rolle, dass sie heute schon
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