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Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption

Titel: Sühneopfer - Graham, P: Sühneopfer - Retour à Rédemption
Autoren: Patrick Graham
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eine Rußwolke, vom Sturm zerfetzt. Augenblicklich brach ihm der Schweiß aus allen Poren. Shepard trat aufs Gas, und sobald er wieder festen Boden unter sich hatte, steuerte er den nächsten Parkplatz an.
    Als er die Augen wieder öffnete, war es laut der digitalen Zeitanzeige seines Wagens genau zehn Uhr. Er fuhr wieder los, bis zur Abzweigung der Staatsstraße 84 von der 101. Rechts San Francisco und seine Zuflucht in der Parkmitte. Links Palo Alto und der Sitz der Kanzlei, in der seine Partner seit über einer Stunde auf ihn warteten. Ein neuerlicher Schwall Panik ließ seine Zähne aufeinanderschlagen. Er bog nach rechts ab und fuhr mit wachsendem Tempo auf die Stadt zu. Der Starenschwarm setzte sich wieder zusammen.
2
    Wieder bohrt sich ihm die Migräne in die Schläfe, und Shepard verzieht das Gesicht. Seine Panikattacken begannen nach dem Schlaganfall vor fünf Jahren. Eine plötzlich anschwellende Ader im Gehirn, ein feuchtes Schmatzen, ein roter Schleier vor den Augen.
    Er war zu Fuß in Boston unterwegs. Kalt war es, und es ging ein eisiger, schneidender Wind. Das ist alles, woran er sich erinnert. Ein Windschwall, der ihn mitten ins Gesicht trifft. Dann dieses schmatzende, schwammige Geräusch irgendwo unter der Schädeldecke. Wie hochgezogener Rotz. Es passierte mitten auf einem verstopften Boulevard, den er überquerte. Es war Heiligabend, und in der Kälte tanzten die Lichterketten. Shepards Stirn furcht sich. Nein, er hatte den Boulevard bereits hinter sich und ging die Schaufenster der Geschäfte entlang, direkt hinter einer blonden jungen Frau in einem Balmain-Mantel mit Kragen und Ärmelaufschlägen aus Pelz. Ja, genau. Er ging wenige Meter hinter ihr und nahm zwischen Duftschwaden von gerösteten Maronen ihr Parfum wahr. Und dann dieses scheußliche Schnalzen hinter der Nasenwurzel, und seither sind die wenigen Bilder, die er sich von seinem früheren Leben bewahrt hat, wie unter einer dicken Eisschicht begraben – alles, Gesichter, Körper, Landschaften.
    In der Ferne knallt es mehrmals hintereinander. Verjagt von den Lärmkanonen des Flughafens von Oakland, stiebt die kompakte Starenmasse auseinander. Shepard blickt den Hunderten schwarzer Punkte nach, die sich bald wieder zusammenfinden, um immer dickere Pfeile zu bilden. Sie biegen ab, segeln dahin, streben zum Südende der Bucht. Die Vogelarmee ist im Begriff, auf die Front der Bäume bei Fremont hinabzustürzen. Ein Wald von Schnäbeln und Federn.
    Shepard blickt auf die Uhr. Seit fünf Minuten wartet er auf Barbaras Anruf. So weit noch nichts Ungewöhnliches. Auch nichts Beunruhigendes. Abgesehen von diesen teuflischen Staren und dem verfluchten Schwanken, das er auf der San Mateo Bridge gespürt hat. Aber das sind alles Zeichen. Tags zuvor hat er versucht, sich seiner Frau anzuvertrauen, als sie am Hafen von San Francisco saßen und zu Mittag aßen. Zwanghaft starrte er auf Barbaras Lippen, die beinahe niemals stillstanden – außer in den seltenen Augenblicken, in denen sie einen Schluck Rotwein trank –, und wartete auf den richtigen Zeitpunkt. Der kam nicht.
3
    Shepard rutscht unruhig auf seiner Bank hin und her. Vor knapp einer Stunde sind Barbara und die Zwillinge nach Las Vegas abgeflogen. Wie jedes Jahr zur selben Zeit besucht Barbara ihre alte Tante Margie, die in Tokop wohnt, einem gottverlassenen Nest am Eingang zum Death Valley, zweihundert Meilen vom »Friedhof der Seelen«: So nennt die verrückte Alte Las Vegas. Entweder so oder »das Sodom der Wüste«. Barbara hatte ihn sehr bedrängt mitzukommen, aber diesmal ließ sich der beste Firmenanwalt der Westküste nicht erweichen. Er denkt an seinen ersten und letzten Besuch in Tokop, als seine Nächte mit der Jagd auf Skorpione dahingingen und seine Tage auf der Flucht vor der weißen Wüstenhitze. Die alte Irre Margie saß unterdessen im Schaukelstuhl vor ihrer verstaubten Glotze, schlürfte Eistee und hörte den Fernsehpredigern zu. Ein Schluck Eistee, ein dezentes Rülpsen, eine geröstete Erdnuss, die sie vorsichtig auf ihren Zahnstümpfen zerkaute, so saß sie da, den Blick auf den Bildschirm geheftet, auf dem das schwarz glänzende Gesicht eines Predigers das Ende der Welt ankündigte.
    Manchmal hielt das Knarzen des Schaukelstuhls inne, und Margie sagte heiser: »Eines Tages wird Gott mir verraten, warum die weißen Prediger nicht annähernd so gut reden können wie diese Neger. Ein Hund, der sich besser zurechtfindet als sein Herr? – Was soll das denn sein,
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