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Süden und das verkehrte Kind

Süden und das verkehrte Kind

Titel: Süden und das verkehrte Kind
Autoren: Friedrich Ani
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dunkel war, haben Sie Ihre Tochter ins Auto gelegt.«
    »Ja. Ich bin mit ihr rumgefahren. Überall hin. Und ich hab gedacht… Ich weiß nicht mehr… Ich bin bloß rumgefahren, ich wollt irgendwo hin mit ihr, und ich hab Tabletten genommen. Damit ich nicht so viel weinen muss. Das hat dann aufgehört. Hat dann aufgehört, das ganze Weinen. Und ich bin da runter zum Kanal und da hab ich sie hingelegt und dann bin ich weggelaufen.«
    »Und Sie haben ihr weiße Socken angezogen.«
    »Bitte? Ja, die waren im Auto. Die müssen aus der Wäsche gefallen sein. Weiß ich nicht mehr. Die hab ich ihr angezogen. Der Schuh war nicht mehr da… war weg… Emma, Emmaly…«
    Anmerkung: Die Tatverdächtige summt ein Lied und bricht abrupt ab.
    »Emma, Emmaly… Dann wollt ich mich auch umbringen. Aber die Tabletten haben nicht gereicht. Bin wieder aufgewacht. Der Fabian darf das nicht denken. Sie müssen das verhindern, Herr Süden! So was darf er nicht denken.«
    »Bevor Nastassja am Freitagabend die Wohnung verlassen hat, haben Sie sie da wieder geschlagen, Frau Kolb?«
    »Ja. Ja. Ja.«
    »Warum?«
    »Weil die hat… Sie ist so dagesessen, so selbstgefällig auf dem Stuhl, so… so provozierend, ja, so provozierend…«
    »Sie haben sich durch die Sitzhaltung Ihrer Tochter provoziert gefühlt.«
    »Ja. Ja. Sie hat mich provoziert, so wie sie dagesessen ist. Und das hat mich so wütend gemacht, dass ich ihr eine Ohrfeige gegeben hab. Sie ist vom Stuhl gefallen. Und dann hab ich sie wieder hingesetzt und ihr noch eine Ohrfeige gegeben, und sie ist wieder auf den Boden gefallen, mitsamt dem Stuhl. Und dann hab ich gesagt, sie soll in ihr Zimmer gehen und still sein.«
    »Und da hat sie die Wohnung verlassen.«
    »Ja.«
    »Sie haben sich provoziert gefühlt, weil Ihre sechsjährige Tochter nicht richtig auf dem Stuhl saß.«
    »Aber deswegen bringt man sich doch nicht um! Sie ist sechs Jahre alt! Woher weiß die denn überhaupt, dass man sich umbringen kann? Mit sechs Jahren. Das kann die doch noch gar nicht wissen! Oder? Woher denn?«
    Erst jetzt warf ich einen Blick auf Freya und bemerkte, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Sie gab kein Geräusch von sich und schrieb ununterbrochen Satz um Satz in ihren Laptop, und währenddessen strömten die Tränen aus ihren Augen.
    Nach einer ersten Untersuchung durch den Pathologen war das kleine Mädchen tatsächlich erstickt, und wenn es stimmen sollte, dass sie Selbstmord begangen hatte , dann würde der Mediziner Spuren von Kunststoff und Gummi an ihren Fingern feststellen.
    Was den Zeugen am Wasserkraftwerk betraf, so hatte er zwar den Wagen gesehen, sich aber nicht die Autonummer gemerkt. Es war ein Trick gewesen, von dem ich nicht wusste, ob er funktionieren würde.
    Die Frau mit dem seltsamen Vornamen, den sie vermutlich hasste, und die den Namen ihrer Großmutter durch ihre Tochter in Ehren halten wollte, was ihr Mann ihr nicht erlaubt hatte, atmete mit offenem Mund, die Hände im Schoß, erschöpft und von sich selbst überfordert. Auf die Frage, wieso sie sich nicht schon längst von ihrem Mann getrennt habe, sagte sie, sie würde lieber ihr Leben mit einem Kerl wie ihm verbringen, der immerhin regelmäßig Geld nach Hause bringe, als noch einmal von ihren Eltern abhängig sein.
    »Das sind Gefühlstyrannen«, sagte Medy Kolb. »Sie sagen, sie lieben dich, aber sie wollen dich nur ermorden mit ihren Gefühlen. Mein Bruder ist wie sie, der hat sich rechtzeitig angepasst. Er ist auch Lehrer geworden, und wenn er dürfte, würde er die Schüler genauso verhören, wie mein Vater es getan hat.«
    Und ich dachte, dass diese Frau, die ihre sechsjährige Tochter nur aus dem einen Grund verprügelte, weil ihr deren Sitzhaltung missfiel, vielleicht ein genetisches Wrack war, aber nicht das geringste Recht hatte, ungestraft davonzukommen.
    Und doch würde es so sein. Und das kleine Mädchen, das eine richtige Nastassja in der falschen sein musste, würde unter großer Anteilnahme von Verwandten, Nachbarn, Schaulustigen, Reportern und Psychologen beerdigt werden, und die Mutter würde Verständnis finden, denn sie hätte das Kind aus panischer Verzweiflung im Wald versteckt, und eine Weile würde Fabian in der Schule noch mitleidige Blicke ernten, und der Vater würde wieder in die Josephinenstraße kommen, um seine Frau zu ficken, und er würde keine Anzeige gegen mich erstatten, und der Staatsanwalt würde die Akte schließen, und unter der Obhut des Allmächtigen würden wir weiter
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