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Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Titel: Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels
Autoren: Friedrich Ani
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trinken, trinkt es und verschwindet«, sagte ich.
    Sie sagte: »Und warum sperrt er die Schusterei zu? Die Frauen haben nichts davon erzählt.«
    »Er hat sie zugesperrt, weil er abgehauen ist.«
    »Sie meinen, er ist schon Anfang der Woche weg?«, sagte Sonja.
    »Warum nicht«, sagte ich.
    »Das würde aber bedeuten, er ist noch einmal zurückgekommen«, sagte Sonja, »und zwar am Donnerstag.«
    »Warum nicht?«, sagte ich.
    Die Schwestern standen beide an der Tür und machten nicht den Eindruck, als würden sie uns reinlassen.
    »Mein Mann fühlte sich nicht gut«, sagte Lotte Grauke.
    »Ich hab ihm verboten runterzugehen.«
    »Das stimmt«, sagte Frau Trautwein. »Max hatte…
    hatte Durchfall und Fieber und…«
    »Warum glauben Sie uns nicht?«, sagte Lotte Grauke. Sie hatte noch immer das schwarze Kleid an und auch die Ausgehschuhe. Aber sie war durcheinander. Aufgewühlt. Wahrscheinlich hatten die Frauen gestritten.
    »Wir glauben Ihnen«, sagte ich, »wir sammeln nur Informationen.«
    »Die Leute in den Lokalen haben Ihre Angaben bestätigt«, sagte Sonja. »Ihr Mann hatte keinen Koffer dabei, er hatte seine Windjacke an und wirkte wie immer. Wie Sie es gesagt haben.«
    »Ja«, sagte Lotte Grauke.
    »Wir melden uns morgen«, sagte ich.
    »Ja«, sagte Lotte Grauke wieder.
    Ungewöhnlich an dieser Vermissung war, dass es schon nach so kurzer Zeit einen Berg Merkwürdigkeiten gab. Die beiden Frauen hatten zuerst unsere Grünen, bei denen sie Anzeige erstattet hatten, angelogen, dann uns. Und anscheinend auch etliche Leute aus dem Viertel, das nach einem Bach benannt war, der dort nicht mehr floss und in dem jetzt die Schusterei M. Grauke geschlossen war, die sonst nie zu hatte, außer am Samstagnachmittag und am Sonntag.
    »Die Idylle bröckelt«, sagte ich.
    Sonja schaute mich an, und es war einer dieser Blicke, mit denen sie mich später noch oft bedachte. Ich wollte jetzt allein sein. Wollte die Straße auf und ab gehen, eine Stunde, zwei Stunden, so lange, bis ich etwas begriff. Bis ich etwas sah. Manchmal dauerte diese Prozedur Tage. Vergeblich war sie noch nie gewesen. Wie Karl dem Nachwuchs auf der Polizeischule immer predigte: Trauen Sie Ihrer Intuition!
    Ich wusste nicht, ob es Intuition war, die mich leitete. Ich schaute. Ich konnte sehen und hören, wie die Zeit verging, an den Schatten auf der Straße, an den Stimmen der Menschen, an der Musik aus den Fenstern, am Hupen, am Geschrei der Kinder. So wie ich kein Handy besaß, hatte ich auch keine Uhr. Die Zeit war da, ich nahm mir, soviel ich brauchte.
    »Dann fahr ich allein zurück«, sagte Sonja. Ich nickte.
    »Und was sag ich Herrn Thon?«
    Herr Thon war der Leiter der Vermisstenstelle, ein gepflegter, gut riechender Ehemann Mitte dreißig, dessen Seidenhalstuch selten verrutschte.
    »Sagen Sie ihm, ich melde mich.«
    Bei dieser Antwort würde er sich die Hände reiben, als habe er sie gerade eingecremt und sich mit dem Zeigefinger am Hals kratzen.
    »Auf Wiedersehen, Kollege Süden.«
    »Wiedersehen.«
    Sie hatte ihren blauen Lancia zur Hälfte auf dem Bürgersteig geparkt. Bevor sie einstieg, nahm sie den Strafzettel vom Scheibenwischer.
    Martin und ich bezahlten unser Bußgeld nie. Schon aus Protest gegen das Wort nicht. Auch dieses Verhalten fand Ute hochgradig kindisch.
    »Möchten Sie da wohnen?«, sagte ein älterer Mann. Er stand vor einem neugebauten, riesigen Altersheim, das garantiert nicht so hieß. Es wirkte wie ein modernes Hotel, warme Farben, viel Glas und Metall, Grünflächen, lichte Räume, soweit man das von außen beurteilen konnte.
    »Kann sich doch keiner aus dem Viertel leisten«, sagte der Mann.
    »Ex-Architekten vielleicht«, sagte ich. Auf einer Tafel stand: »Wohnen und leben im dritten Lebensabschnitt«.
    »In welchem sind Sie?«, fragte ich.
    »Heut im vierten«, sagte der Mann und ging hustend und ächzend weiter.
    Ich betrachtete das Schild, das in der Sonne glänzte. Ich verdiente fünftausend im Monat. Mein Alter würde woanders stattfinden.

2
    E norm »in« alles. Der griechische Tante-Emma-Laden, das alternative Theater, das engagierte Kino, die renovierten Altbauten, das Straßenleben, die Kneipen, die Schwulenbars, das ›Mylord‹, in das früher nur Lesben und seit Jahren auch Heteros durften, ohne dass der Umsatz deswegen eine innenarchitektonische Auslüftung erlaubte. Der Siebente Himmel, in dem Martin und ich uns Ende der siebziger Jahre weiße Hemden und speckige Westen gekauft hatten, Secondhand,
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