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Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels

Titel: Süden und das Gelöbnis des gefallenen Engels
Autoren: Friedrich Ani
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Grauke…«, begann Sonja.
    »Lotte«, sagte Frau Grauke.
    »Sie haben Lieselotte eingetragen.«
    Über die Fähigkeiten meiner Kollegin wusste ich nichts. Dies war ihr erster Fall in der Vermisstenstelle, an dem sie direkt beteiligt war. Sofern es sich um einen Fall handelte. Und nicht um eine der üblichen Hupfauf-Vermissungen: Jemand läuft weg und ist schneller wieder da als ein Kind einmal mit dem Seil springen kann.
    »Wollen Sie sich nicht endlich hinsetzen, Herr Süden?«, fragte Frau Trautwein.
    »Nein«, sagte ich.
    »Hat Ihr Mann einen Koffer mitgenommen?«, fragte Sonja.
    Hatte er nicht, das stand in der Akte. Ich war neugierig auf Sonjas Strategie.
    »Nein«, sagte Lotte Grauke.
    »Ich weiß, meine Kollegen haben Sie das schon gefragt, aber es ist wichtig, dass Sie es mir auch noch einmal sagen: Hat Ihr Mann jemals Selbstmordabsichten geäußert?«
    »Niemals«, sagte Frau Trautwein.
    Ich zog meinen Block aus der Tasche und machte mir Notizen.
    »Gut«, sagte Sonja. »Ich hab heut Morgen mit Dr. Felbern gesprochen, er sagt, Ihr Mann war wegen Rückenbeschwerden bei ihm, in letzter Zeit häufig.«
    »Ja«, sagte Lotte Grauke. »Er ist Schuster, er hockt da auf seinem uralten Schemel und macht sich den Rücken kaputt.«
    »Der Arzt hat ihm Massagen verschrieben.« Sonja wandte mir den Kopf zu. Ich nickte. Schrieb weiter.
    »Für so was hat Maximilian keine Zeit«, sagte Frau Grauke.
    »Er ist am vergangenen Donnerstag gegen halb zehn Uhr abends aus dem Haus gegangen und nicht wiedergekommen«, sagte Sonja.
    »Max wollte im ›Rumpler‹ noch ein Bier trinken«, sagte Frau Trautwein.
    Sonja legte die Akte auf den Tisch und stellte ihre Tasse darauf. »Sie haben ferngesehen, Frau Grauke, Sie und Ihr Mann. Dann ist er aufgestanden und gegangen. Was genau hat er gesagt? ›Ich geh noch ein Bier trinken?‹ Was genau?«
    Die beiden Frauen sahen sich an. Frau Trautwein spielte am Verschluss ihrer Handtasche, ihre Schwester faltete die Hände im Schoß und blickte dann in ihre Tasse, die leer war.
    »Er hat nichts gesagt«, sagte sie nach einer Weile.
    »Er ist einfach aufgestanden und gegangen«, sagte Sonja.
    »Ja.«
    »Er hat seine Windjacke angezogen, die Schuhe und ist gegangen.«
    Mehrere Sekunden verstrichen in Stille. Ich stand am Fenster. Das Fenster war geschlossen, die Gardinen rochen frisch gewaschen. Die beiden Grünpflanzen sahen aus wie poliert. Von unten drangen Straßengeräusche herauf. Kinderrufe. Sommergesang. Dieser zwölfte Juli war ein Tag, wie es nicht viele gab in dieser Stadt. Fehlte nur das Meer. Und die andere Sprache.
    »Was haben Sie dann gemacht, Sie beide?«, fragte Sonja. Im ersten Moment dachte ich, ich hätte die Frage selbst gestellt.
    Frau Trautwein reagierte am schnellsten: »Wie meinen Sie das, wir beide?«
    Ihre Schwester konnte ihren Schreck nicht verbergen. In der VVA stand kein Wort davon, dass sie an jenem Abend zu dritt vor dem Fernseher gesessen hatten.
    »Ich meine…«, sagte Sonja. Ich konnte ihr Gesicht nicht genau sehen, aber was ich sah, wäre in Gottes Schar der reinen Unschuldigen nicht weiter aufgefallen. »Ich meine, haben Sie darüber gesprochen, wieso er plötzlich weggeht, was das soll, wieso er keinen Ton sagt. Waren Sie sauer auf ihn?«
    »Warst du sauer?«, fragte Frau Trautwein ihre Schwester.
    »Ich?« Sie sagte tatsächlich: »Ich?«
    Jeder lügt, das lernt man schon auf der Polizeischule. Und doch war es auch nach Jahren immer wieder verblüffend, wie viel Mühe manche Leute darauf verwandten sich zu verstellen, um dann jämmerlich zu scheitern. Dass wir sie durchschauten und deshalb der Wahrheit näher kamen, war jedoch ein Irrtum. Die Wahrheit ist nicht das Gegenteil von Lüge. Die Wahrheit ist eine andere Kategorie. Die Lüge ist Teil der Wahrheit. Und das macht es oft schwer, die Zusammenhänge zu begreifen, den Menschen und sein Zimmer, das er unsichtbar mit sich herumträgt und in dem nur er sich auskennt. Wenn wir nicht begreifen, welche Art Zimmer jemand bewohnt, begreifen wir nichts. Dann müssen wir uns am Ende mit der Variante der Wahrheit zufrieden geben, die uns beruhigt und den Fall beendet.
    »Ich war schon sauer auf ihn«, sagte Lotte Grauke.
    »Und Sie?«, fragte Sonja.
    »Ich war doch gar nicht hier!«, sagte Frau Trautwein. Die Frauen redeten noch eine halbe Stunde, dann versprachen wir, die Meldung in den Computer des Landeskriminalamtes einzugeben. Was weniger der konkreten Suche diente. Vielmehr konnten die Kollegen auf diese
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