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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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möglichen Blickwinkel zurückgreifen kann.
    Darum ist er Nachrichtenredakteur. Ginge es nach Kåre, wäre er Chef sämtlicher Redaktionen und obendrein auch noch Chef vom Dienst. Er hat Tourette, nicht unbedingt eine der unproblematischsten Krankheiten, wenn man eine Redaktion leiten und gleichzeitig ein soziales Leben führen will.
    Aber Kåre schafft es, mit Zwangshandlungen, Ticks und allem, was dazugehört. Henning weiß nicht wie, aber Kåre schafft es.
    Jetzt hat Kåre ihn auch entdeckt. Er winkt und streckt einen Finger in die Luft. Henning nickt und bleibt ruhig stehen, während Kåre den Desk-Journalisten instruiert.
    »Und das nimmst du in den Lead. Das ist das Prickelndste an der ganzen Sache, nicht, dass das Zelt weiß war und im März bei Maxbo gekauft wurde. Verstehst du?«
    »Maxbo verkauft keine Zelte.«
    »Nein, natürlich nicht. Aber du weißt, was ich meine. Und bring zu einem frühen Zeitpunkt, dass sie wenig anhatte, als sie gefunden wurde. Das ist wichtig. Pflanz den Leuten ein sexy Bild in den Kopf, reg ihre Fantasie an.«
    Der Desk-Journalist nickt. Kåre klopft dem Mann auf die Schulter und kommt mit raschen Schritten auf Henning zu. Um ein Haar stolpert er über ein Kabel, das über dem Gang liegt, aber er geht einfach weiter. Und obwohl er nur noch wenige Meter entfernt ist, ruft er: »Henning! Schön, dich zu sehen! Welcome back!«
    Kåre schwingt seine Hand nach vorn und wartet nicht, bis Henning ihm seine entgegenstreckt. Er packt sie und schüttelt sie kräftig. Henning treten Schweißperlen auf die Stirn.
    »Na – wie geht’s? Bist du bereit, die Klick-Jagd wieder aufzunehmen?«
    Henning denkt an Ohrenschützer.
    »Ich bin jedenfalls schon mal hier«, antwortet er.
    »Fein! Fein! Wir brauchen hier solche wie dich, einen, der weiß, wie man einen lesefreundlichen Artikel schreibt. Das ist gut! Keine Frau – arme Sau! Scharfe Ficks – das bringt Klicks!«
    Kåre lacht laut, ein Zucken läuft über sein Gesicht, aber er lacht weiter. Kåre hat im Laufe seiner Zeit schon viele Schlagzeilen gereimt. Kåre liebt Reime.
    »Also, ich hab mir gedacht, dass du da drüben mit den andern aus der Abteilung zusammensitzt.«
    Kåre fasst Henning am Arm und zieht ihn an einer rot getönten Glaswand vorbei. Sechs Computer, jeweils drei an jeder langen Seite eines rechteckigen Tischs. Hinter dem Tisch, auf einer einsamen Insel, liegt mindestens eine Tonne Zeitungen.
    »Hier hat sich einiges verändert, wie du vielleicht bemerkt hast, aber deinen Arbeitsplatz hab ich nicht angerührt. Der ist genau wie vorher. Nach dem, was passiert ist, dachte ich, dass du – ähm – vielleicht selbst entscheiden möchtest, ob du was wegwerfen willst.«
    »Wegwerfen?«
    »Ja, oder umstellen. Du weißt schon.«
    Er sieht sich noch einmal um.
    »Wo sind die anderen?«
    »Wer?«
    »Die anderen aus der Abteilung?«
    »Keinen Schimmer, Schimmer, SCHIMMER. Doch, warte. Heidi ist hier. Heidi Kjus. Hab sie eben doch noch irgendwo hier gesehen. Sie ist jetzt die Chefin von irix .«
    Henning spürt einen Stich in der Brust. Heidi Kjus.
    Heidi war eine der Ersten, die er vor fünfundneunzigtausend Jahren als Aushilfe von der Journalisten-Hochschule angefordert hat. Normalerweise sind die frisch Ausgebildeten so zugestopft mit Informationen, die sie an der Schule gelernt haben, dass sie das Wichtigste vergessen, was einen guten Journalisten ausmacht: Benimm und gesunder Menschenverstand. Wenn man darüber hinaus noch neugierig ist und sich nicht mit der erstbesten Wahrheit zufriedengibt, hat man es schon ein ganzes Stück weit gebracht. Aber um ein verflixt guter Reporter zu werden, muss man auch ein wenig Drecksack sein, ein wenig skrupellos. Man muss die nötige Kondition aufbringen, lange Strecken und Gegenwind durchzuhalten und nicht aufzugeben, wenn man an einer guten Sache dran ist.
    Heidi Kjus hatte all das. Vom ersten Tag an. Und sie hatte einen Heißhunger, den Henning in dieser Form selten erlebt hat. Für sie war keine Sache zu unwichtig oder zu groß, und es dauerte nicht lange, bis sie sowohl die nötigen Quellen als auch Erfahrungen gesammelt hatte. Nachdem sie einmal begriffen hatte, dass sie gut war, legte sie zu der allmorgendlichen Schminke noch eine solide Schicht Arroganz auf.
    Einige Journalisten strahlen eine Aura aus, eine Haltung zu ihrer Umgebung, die förmlich schreit: »Der Job, den ich mache, ist der wichtigste auf der ganzen Welt. Und keiner macht ihn besser als ich.« Heidi schaute zu
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