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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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Verdauungstrakt verschwinden und dort die Arbeit erledigen, die laut Dr. Helges engagiertem Dafürhalten zu Hennings Bestem ist.
    Er knallt das Tablettenglas unnötig hart auf das Nachttischchen, als wollte er sich selbst wecken. Dann greift er energisch zu den Streichhölzern, schiebt langsam die Schachtel auf und starrt den Inhalt an. Dünne Holzsoldaten aus der Hölle. Er nimmt einen davon heraus, den Blick auf den Schwefelkopf geheftet, diese rote Kappe geballter Boshaftigkeit. Auf der Packung steht etwas von Sicherheitshölzern.
    Scheiß Sicherheit.
    Er legt das dünne Hölzchen an die Reibefläche und will es anreißen, aber seine Hände verkrampfen und schließen sich. Er kann sie nicht mehr bewegen, strengt sich an, konzentriert alle Kraft auf seine Hände, auf die Finger, aber dieses verfluchte kleine Stückchen Holz will sich nicht rühren. Es will einfach nicht kapieren, lässt sich durch nichts beeindrucken. Ihm bricht der Schweiß aus, seine Brust wird eng, er will Luft holen, aber es geht nicht. Er versucht es wieder, nimmt das winzige Schwert der Boshaftigkeit von der Reibefläche, um es gleich darauf erneut zu versuchen, spürt aber sofort, dass sein Kampfwille und damit auch seine Entschlossenheit nachgelassen haben, und hält inne. Jetzt versucht er, die Kraft in seine Gedanken zu legen, sieht aber ein, dass er atmen muss, und erstickt den in ihm aufkeimenden Drang zu schreien.
    Alles nur, weil es so schrecklich früh am Morgen ist. Arne, der über ihm wohnt, schläft vermutlich noch, sonst würde man ihn sicher, wie sonst zu jeder Tages- und Nachtzeit, Gedichte von Halldis Moren Vesaas vortragen hören.
    Henning seufzt und legt die Schachtel vorsichtig zurück an die exakt gleiche Stelle. Langsam fährt er sich mit den Händen über das Gesicht und betastet die Stellen seiner Haut, die sich anders anfühlen. Weicher und unebener. Die äußerlichen Narben sind nichts im Vergleich zu denen in seinem Inneren, denkt er und steht auf.
    Schlafende Städte sind seine Bestimmung. Dort will er sein, und dort ist er jetzt. Grünerløkka früh am Morgen, bevor der Stadtteil vor Leben brummt, sich die Straßencafés füllen, Mütter und Väter zur Arbeit und die Kinder in den Kindergarten müssen. Noch sind keine Radfahrer unterwegs, die auf dem Weg über die Toftes gate so viele rote Ampeln wie nur möglich überfahren. Um diese Zeit ist außer den ewig hungrigen Tauben niemand wach.
    Er geht an dem Brunnen auf dem Olav Ryes plass vorbei und lauscht dem Spiel des Wassers. Er ist ein guter Zuhörer. Und er kennt sich mit Lauten aus. Kann die Stille aus dem fließenden Wasser heraushören und denkt, dass es gut und gern der letzte Tag der Welt sein könnte. Mit ein wenig Konzentration würde er vielleicht sogar ein paar vorsichtige Streicher und die dunklen Klänge eines Cellos hören. Töne, die sich annähern, aneinanderschmiegen, aufeinander einlassen und schließlich Gesellschaft von Pauken bekommen, die das herannahende Elend verkünden.
    Aber er hat nicht die Zeit, die Morgenmusik in sich aufzunehmen, denn er ist auf dem Weg zur Arbeit. Allein schon der Gedanke daran macht Gummi aus seinen Beinen. Er weiß nicht, ob es Henning Juul noch gibt, den Juul, der jedes Jahr vier Jobangebote bekam, stumme Quellen zum Singen und die Tage dazu brachte, ein paar Stunden länger zu sein – nur ihm zuliebe –, weil er zum Jagen seiner Beute Licht brauchte.
    Er weiß, wer er war.
    Ob Halldis auch einen Vers für solche wie mich hat?, fragt er sich. Vermutlich.
    Halldis hat für jeden ihren Vers.
    Er bleibt stehen, als er den gigantischen gelben Koloss am Beginn der Urtegata sieht. Wegen des riesigen Securitas-Logos an der Wand glauben alle, dass in diesem Gebäude nur die Sicherheitsfirma ansässig ist, dabei gibt es dort auch diverse private Firmen und Behördenstellen. Und die Firma www.123nyheter.no, Hennings Arbeitsplatz, eine reine Internetzeitung, die mit dem Slogan »Nachrichten in 1-2-3« operiert.
    Er ist sich unschlüssig, was er von diesem Slogan halten soll, aber im Grunde genommen sind ihm solche Sachen egal. Sie haben sich fair verhalten, ihm Zeit gegeben, wieder zu sich zu kommen, die Chance für einen Neustart.
    Ein Zaun aus hohen schwarzen Speeren ragt vor dem gelben Gebäude drei Meter in die Höhe. Das Tor ist ein Teil dieses Zauns. Es öffnet sich langsam, als ein Geldtransporter herausfährt.
    Er geht an einem kleinen leeren Pförtnerbüro vorbei und legt die Hand an die Eingangstür. Sie
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