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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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hintereinander.
    »Gut! Ich heiße Sølvi«, sagt sie und reicht ihm über den Tresen hinweg die Hand. Er schlägt ein. Weiche, angenehme Haut. Er kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt weiche, angenehme Haut in seiner Hand gespürt hat. Sie drückt gerade fest genug zu. Er sieht sie an und lässt los.
    Als er sich umdreht und geht, fragt er sich, ob sie wohl sein schwaches Lächeln bemerkt hat.

3
    Henning braucht die neue Schlüsselkarte nicht weniger als drei Mal auf seinem Weg von der Rezeption ins zweite Stockwerk. Abgesehen von der Tatsache, dass die Redaktion nach wie vor dort untergebracht ist, erinnert nichts an die Räumlichkeiten, in denen er vor bald zwei Jahren gerade angefangen hatte, sich zurechtzufinden. Alles ist neu, sogar der Teppich. Überall finden sich jetzt graue und weiße Flächen, sie haben eine Kochnische bekommen, und er könnte wetten, dass die Gläser und Tassen in den Schränken jetzt sogar sauber sind. Des Weiteren finden sich jetzt auf allen Tischen und sogar an einigen Wänden Flachbildschirme.
    Er sieht sich um. Vier runde Dinger. Und mindestens zwei rote Schaumgeräte. Gut. Besser als nichts.
    Der Raum hat die Form eines lang gestreckten L. An den Fenstern stehen Pulte, Tische und Stühle hinter Trennwänden aus getöntem Glas. Abgetrennte Räume von je einem üppigen Quadratmeter, falls man ein Interview ohne Zuhörer oder Unruhe um sich herum führen will. Es gibt sogar Behindertentoiletten, obgleich er sonst niemanden mit irgendwelchen Gebrechen gesehen hat. Aber das ist wahrscheinlich Vorschrift. Eine Kaffeemaschine hat es schon immer gegeben, aber jetzt haben sie eine Kaffeemaschine , die exakt neunundzwanzig Sekunden für eine Tasse guten schwarzen Kaffee braucht. Nicht vier.
    Henning mag Kaffee. Man kann kein guter Journalist sein, ohne Kaffee zu mögen.
    Das Surren im Hintergrund ist ihm vertraut. Diverse ausländische Fernsehstationen melden immer wieder dieselben Nachrichten. Alles Eilmeldungen, Breaking News. Börsenkurse laufen in einem Band unten über die Mattscheibe. Eine Handvoll Bildschirme zeigt, was NRK und TV 2 auf ihren unglaublich unmodernen, aber nach wie vor lebenstüchtigen Teletext-Seiten zu vermelden haben. Die Nachrichtensender bringen ihre Beiträge in einer Endlosschleife. Auch sie haben einen Ticker, der die Essenz einer Neuigkeit in einem Satz zusammenfasst. Dann hört er die charakteristische Lautfolge des Polizeifunks, als würde R2-D2 aus Star Wars in regelmäßigen Abständen aus einer weit, weit entfernten Galaxie Signale senden. Aus einem Radio plätschert leise NRKs Vierundzwanzigstunden-Nachrichtensender.
    Morgenmüde Reporter hämmern auf ihre Tastaturen, Telefone klingeln, es wird diskutiert, unterschiedliche Perspektiven werden vorgeschlagen. In der Ecke am Newsdesk, wo aller Stoff durchgekaut, abgewogen, verworfen, bejubelt, poliert oder kräftig umgearbeitet wird, liegt ein Stapel Zeitungen – Papierausgaben, neue und alte –, den die frisch eintrudelnden Journalisten verschlingen und verdauen, während sie an ihrer ersten Tasse Kaffee nippen.
    Es herrscht das übliche kontrollierte Chaos. Doch für ihn fühlt sich alles fremd an. Die Sicherheit, die er nach vielen Jahren Arbeit auf der Straße, im Feld , gespürt hat, wenn er an einem Tatort eintraf und wie selbstverständlich seinen natürlichen Platz einnahm, ist verpufft. All das gehört einem anderen Lebensabschnitt an, einer anderen Ära.
    Er fühlt sich wie ein Neuling. Als hätte er in einem Theaterstück die Hauptrolle des Armen Würstchens übernommen. Des Typen, auf den alle aufpassen sollen und dem sie helfen müssen, um ihn wieder auf die Beine zu kriegen. Obgleich er noch mit niemandem ein Wort gewechselt hat außer mit Sølvi, ist er sicher, dass keiner daran glaubt, dass das überhaupt möglich ist. Henning Juul wird niemals wieder der Alte werden.
    Er macht kleine Schritte, versucht, sich einen Überblick zu verschaffen, ob er jemanden wiedererkennt. Gesichter. Lauter Gesichter und Bruchstücke aus einem Erinnerungsbuch, das er ein für alle Mal zugeklappt zu haben glaubte. Da sieht er Kåre.
    Kåre Hjeltland beugt sich über die Schulter eines Journalisten in der Desk-Ecke. Kåre ist Nachrichtenredakteur bei 123nyheter . Er ist ein kleiner, schmächtiger Kerl mit wirrem Haar und einem Engagement, das alles übertrifft, was Henning je erlebt hat. Kåre ist ein Duracell-Kaninchen auf Speed, das hundert Sachen auf einmal im Kopf hat und auf ein Arsenal aller
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