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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich
Autoren: Thomas Enger
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rührt sich nicht. Er blickt durch das Glas nach drinnen. Es steht niemand in der Nähe. Schließlich drückt er auf die Klingel aus gebürstetem Stahl, über der »Empfang« steht.
    »Ja«, ertönt mürrisch eine Frauenstimme.
    »Hallo«, sagt er und räuspert sich. »Können Sie mich reinlassen?«
    »Zu wem wollen Sie?«
    »Ich arbeite hier.«
    Es bleibt für ein paar Sekunden still.
    »Haben Sie Ihre Schlüsselkarte vergessen?«
    Er denkt nach. Schlüsselkarte?
    »Nein, ich habe keine bekommen.«
    »Alle haben Schlüsselkarten bekommen.«
    »Ich nicht.«
    Es wird wieder still. Er wartet auf eine Fortsetzung, die nicht kommt.
    »Würden Sie mich reinlassen?«
    Ein scharfes Bzzzzzz lässt ihn zusammenzucken, die Tür summt. Er zieht sie überrascht zu sich, geht hinein und blickt nach oben. Seine Augen haben rasch das runde Ding an der Decke gefunden. Er wartet, bis es rot zu blinken beginnt.
    Die grauen Schieferplatten am Boden sind neu, die waren beim letzten Mal noch nicht da. Wie das meiste andere, denkt er. Auf dem Boden stehen große Pflanzen in noch größeren Töpfen, und an den weißen Wänden hängen Kunstwerke, die ihm nichts sagen. Sie haben jetzt auch eine Kantine, stellt er fest, als er links durch eine Glastür schaut. Die Rezeption liegt auf der anderen Seite hinter einer weiteren Glastür. Er geht hinein. Auch hier hängt so ein Ding unter der Decke. Gut.
    Eine Frau mit rotem, zu einem Pferdeschwanz zusammengefasstem Haar sitzt hinter dem Tresen. Wütend hackt sie etwas in die Tastatur des Computers, während das Licht des Bildschirms auf ihr müdes Gesicht fällt. Die Postfächer hinter ihr an der Wand sind übervoll mit Papieren, Broschüren, Päckchen und Briefen. An der Wand hängt ein Bildschirm, der mit einem PC gekoppelt ist. Er wirft einen Blick auf die Topnews.
    FRAUENLEICHE GEFUNDEN
    Auch den Lead bekommt er mit.
    In einem Zelt am Ekeberg wurde die Leiche einer Frau gefunden. Die Polizei geht von einem Verbrechen aus.
    Die Nachrichtenredaktion hat sich noch nicht darum kümmern können, denkt er, sonst stünde im Lead mehr als in der Schlagzeile. Vermutlich sind die Reporter noch gar nicht ausgerückt. Als Illustration dient ein Foto von einem Polizeiabsperrband an einem ganz anderen Tatort.
    Wie originell.
    Henning wartet darauf, dass sie ihn ansieht. Aber das tut sie nicht. Er geht auf die Frau zu und begrüßt sie. Sie hebt ihren Blick und sieht ihn an, als hätte er sie geohrfeigt. Dann kommt das Unausweichliche. Ihr Mund öffnet sich, und ihre Augen nehmen alles auf, das Gesicht, die Brandverletzungen und die Narben. Er ist nicht völlig entstellt, die Narben sind nicht groß, nicht aufdringlich groß, aber doch groß genug, dass die Leute ihn einen Augenblick zu lange anstarren, wenn er sich im selben Raum wie sie befindet.
    »Ich brauche offensichtlich eine Schlüsselkarte«, sagt er so höflich, wie er kann. Sie starrt ihn noch immer an, ehe sie sich selbst aus der Blase reißt, in der sie Zuflucht gesucht hat, und in einem Stapel Papiere zu blättern beginnt, die vor ihr liegen.
    »Äh, ja. Äh … wie heißen Sie denn?«
    »Henning Juul.«
    Abrupt hält sie inne und blickt wieder auf. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, bis sie sagt: »Sie sind das also.«
    Er nickt verlegen. Dann öffnet sie eine Schublade, nimmt ein paar Unterlagen heraus, bis sie einen Kartenhalter und eine Schlüsselkarte findet.
    »Ich kann Ihnen nur eine vorläufige Karte geben. Es dauert etwas, eine neue herzustellen. Sie müssen sich draußen im Pförtnerbüro registrieren lassen, damit Sie die Tür selbst öffnen können, und – aber das wissen Sie ja sicher – der Code ist 1221. Den kann man sich leicht merken.«
    Sie reicht ihm die Karte.
    »Und dann muss ich noch ein Foto von Ihnen machen.«
    Er sieht sie an.
    »Ein Foto?«
    »Ja, für die Schlüsselkarte. Und für die Autorenzeile in der Zeitung. So schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe, ist doch gut, oder?«
    Sie lächelt, aber ihre Lippen zittern leicht.
    »Ich habe einen Fotokurs gemacht«, sagt sie, als wollte sie seine Bedenken zerstreuen. »Bleiben Sie einfach da stehen, wo Sie jetzt sind. Ich kümmere mich um den Rest.«
    Hinter dem Tresen taucht eine an einem Stativ befestigte Kamera auf, die sie aufstellt. Henning weiß nicht, wohin er gucken soll, weshalb er den Blick starr nach vorn richtet.
    »So, ja. Versuchen Sie zu lächeln.«
    Lächeln. Er weiß nicht, wann er zuletzt gelächelt hat. Sie macht drei Fotos schnell
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