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Sterbensangst (German Edition)

Sterbensangst (German Edition)

Titel: Sterbensangst (German Edition)
Autoren: David Mark
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Stelle, wo Sie damals untergegangen sind. Es ist knapp, und das Wetter wird nicht besonders sein, aber es bleibt Zeit genug für die Zeremonie. Ziehen Sie sich warm an, ja? Wie gesagt, wir haben einen schlichten Kranz und eine Gedenktafel vorbereitet. Wir werden Sie dabei filmen, wie Sie sie über die Reling werfen.«
    »Also gut, meine Liebe«, sagt er mit einer Stimme, die nicht wie seine eigene klingt. Eher wie ein Quietschen. Wie die Sohle eines Gummistiefels auf nassem Holz.
    Plötzlich spürt er einen Druck auf der Brust. Er schenkt ihr das strahlendste, großväterliche Lächeln, das er noch zustande bringt, sagt gute Nacht und ignoriert seine protestierenden Knie, während er sich aus dem Stuhl mit der harten Lehne hochstemmt und drei schwankende Schritte auf die offene Tür zu macht. Er schiebt sich in den engen Korridor und geht in Richtung Deck, schneller als seit Jahren. Einer von der Mannschaft kommt ihm entgegen. Der Seemann nickt lächelnd und drückt sich an die Wand, um den Älteren passieren zu lassen. Er murmelt etwas auf Isländisch, aber Fred bringt nicht mehr die Kraft auf, sich an die Sprache zu erinnern, die er seit Jahrzehnten kaum gesprochen hat. Das Geräusch, das er von sich gibt, während er an dem Mann im orangefarbenen Overall vorbeigeht, ist wenig mehr als ein gurgelndes Husten.
    Er bekommt keine Luft mehr. Schmerz schießt ihm durch Arm und Schultern.
    Hustend und keuchend platscht er an Deck wie ein Fisch aus einem Schleppnetz, und mit fest zusammengepressten Lidern füllt er seine Lunge in tiefen Zügen mit der eisigen, frostigen Luft.
    Das Deck ist verlassen. In seinem Rücken liegt der künstliche Berg aus Frachtcontainern, den der Frachter in drei Tagen löschen wird. Weiter vorne Richtung Bug sieht er kleine gelbe Vierecke von der Brücke leuchten. Halogenlampen werfen bleiche Lichtkreise auf den gummiartigen grünen Belag des Decks.
    Er starrt in die See. Fragt sich, wie seine Kameraden wohl inzwischen aussehen. Ob ihre Skelette intakt geblieben sind, oder ob die Meeresströmungen sie zerpflückt und durcheinandergewirbelt haben. Er fragt sich, ob die Beinknochen von Georgie Blanchard sich vielleicht mit denen von Archie Cartwright verheddert haben. Die beiden konnten sich nie leiden.
    Er fragt sich, wie sein eigener Leichnam heute aussehen würde.
    Mit hängendem Kopf grübelt er darüber nach, wie er vierzig gestohlene Jahre vergeudet hat. Er greift in die Tasche und holt seine Zigaretten hervor. Es ist Jahre her, seit er zum letzten Mal ein Streichholz in einem Sturm der Stärke   5 anzünden musste, aber er erinnert sich noch an die Kunst, die Flamme mit der hohlen Hand zu schützen und rasch einen tiefen Zug Zigarettenrauch einzuatmen. Er lehnt sich mit dem Rücken gegen die Reling und sieht sich um, versucht, Ordnung in seine Gedanken zu bringen. Betrachtet die ferne Sichel des Mondes, die in ein ausgefranstes Kissen aus Wolken eintaucht. Die weißen Schaumkronen auf dem schwarzen Wasser, während der Frachter durch den tiefen Ozean pflügt.
    Warum du, Fred? Warum hast du überlebt und sie nicht? Warum …
    Fred kommt nie dazu, den Gedankengang zu beenden. Raucht nie seine Zigarette zu Ende. Wird nie den Kranz niederlegen und die Gedenktafel ins Meer werfen, um achtzehn Kameraden Lebewohl zu sagen, die auf See geblieben sind. Einen Augenblick will es ihm scheinen, als wäre das Schiff auf Grund gelaufen.
    Er wird nach hinten geworfen. Kracht so hart gegen die Reling, dass ihm die Luft aus den Lungen gequetscht und eine zersplitterte Rippe durch die Haut nach außen getrieben wird. Blut sprüht von seinen Lippen, während die Kraft aus seinen Beinen schwindet. Er sinkt in die Knie, rutscht auf den Bauch, als seine Hände auf dem nassen Deck abgleiten. Der aus der Haut ragende Spieß der Rippe bricht beim Aufprall ab, und rotglühender Schmerz explodiert qualvoll in seinem Inneren, dringt lange genug in seinen betäubten Verstand ein, dass er die Augen aufschlägt.
    Er versucht, sich hochzustemmen. Um Hilfe zu rufen.
    Und dann schaufeln ihn starke Arme in die Höhe. Einen Moment lang, eine einsame Sekunde lang, sieht er seinem Angreifer in die Augen. Dann bleibt nur das Gefühl des Fliegens. Eines schnellen, unbeholfenen Falls. Von vorbeirauschender, kalter Luft. Von Wind in seinen Ohren, Gischt an seinem Rücken.
    Rumms.
    Ein fürchterlicher Aufschlag auf dem hölzernen Deck eines kleinen Bootes, das auf einer Wasseroberfläche in der Farbe von englischem Ale tanzt,
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