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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer
Autoren: Constanze Kleis
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Freundeskreis zunehmend von Gruselgeschichten bestritten wird, in denen Fehldiagnosen die Hauptrolle spielen. »Meine Ärztin hat mir gerade geschwollene Mandeln bescheinigt«, sagt eine Freundin. »Meinen Einwand, dass die schon 1981 entfernt wurden, hat sie sportlich weggesteckt.« Sicher verdankt sich ein Teil dieser Horrorszenarien dem Umstand, dass der Mensch lieber den Zaun als die Löcher darin sieht und bisweilen eine bizarre Freude an »Wer-weiß-noch-was-Schlimmeres«-Wettbewerben empfindet. Irgendwann aber wirft sich ja dann doch immer ein Ärzte-Ehrenretter in die Brust und meint, also er könne überhaupt nicht klagen. Und dass auf jeden schlechten Arzt ganz sicher ungleich viel mehr gute kommen. Das sei, erklärte mir jüngst jemand, wie in diesem Coca-Cola-Spot: alles eine Frage der Perspektive. In dem Spot heißt es hoffnungsfroh: »Auf jeden produzierten Panzer kommen 131.000 produzierte Kuscheltiere, auf jede Mauer auf der Welt kommen 200.000 ›Willkommen‹-Fußmatten, und während ein Wissenschaftler eine neue Waffe entwickelt, backen eine Million Mütter einen Schokoladenkuchen.« Soll man es also tröstlich finden, wenn auf jeden nicht erkannten Krebs 34.967 richtig diagnostizierte Nasennebenhöhlen-Entzündungen kommen? Und hat jemand, dessen Mutter gerade nicht in der Küche einen Schokoladenkuchen backt, sondern der vielleicht gerade beim Spielen durch eine Landmine beide Beine verloren hat, einfach nicht die richtige Perspektive? Diese Art von Milchmädchenrechnungen mag funktionieren, solange man sich auch medizinisch auf der Fußmattenkuscheltierschokoladenkuchen-Seite des Lebens befindet. Bis man eines Tages in jenem Drittel der Männer mit Prostatakarzinom landet, die eine falsche Therapie erhalten, weil der Arzt eine ganz einfache Anamnesefrage nicht gestellt hat.
    Nein, ich bin nicht der Meinung, dass Ärzte Übermenschen sein sollten und keine Fehler machen dürfen. Aber ich finde, ein guter Arzt müsste die Möglichkeit eines Fehlers immer schon mitdenken. Seine Handlungen sollten von einem gesunden Misstrauen gegen sich selbst begleitet sein und hätten damit ein vielleicht lebensrettendes Korrektiv. Eine Idee, der sich das Internetportal www.jeder-fehler-zaehlt.de verdankt. Betrieben wird das Portal für Hausarztpraxen vom Institut für Allgemeinmedizin der Frankfurter Goethe-Universität. Es folgt dem schönen Grundgedanken: »Man muss nicht alle Fehler erst selbst gemacht haben, um aus ihnen lernen zu können. Berichten ist sinnvoll, vor allem, wenn es zu einer konstruktiven Reaktion führt.« Ärzte, vor allem Allgemeinmediziner, können auf dieser Seite anonym ihre Fehler und »kritische Ereignisse« aus der Praxis schildern. Diese werden dann analysiert, ausgewertet und auch kommentiert. Auf diese Weise will man »Erkenntnisse über Fehlerarten, -häufigkeiten und ihre Ursachen« gewinnen. Ein besonderes Augenmerk soll dabei auf Fehler verursachende Bedingungen gerichtet werden, woraus sich wiederum Hinweise zur Fehlervermeidung ergeben. Auf der Seite heißt es weiter: »In Deutschland sind damit die Hausärzte die erste Fachgruppe, die über ein bundesweites Fehlerberichtssystem zur Verbesserung der Patientensicherheit verfügt.«
    Immerhin: ein Anfang. Auch wenn ein entscheidender Fehler unter den mittlerweile mehr als 700 gemeldeten Ereignissen nicht zu finden ist: dass man ausgerechnet dort, wo es um Leben und Tod gehen kann, keinesfalls von Kategorien wie »Pech« und »Glück« abhängig sein sollte. Von denselben Schicksalsmächten also, denen wir auch verregnete Sommer, abstehende Ohren oder unglückliche Ehen verdanken. Es darf nicht sein, dass man – bloß weil der Kosmos einen schlechten Tag hat – an eine austrainierte Niete gerät, die einen Krebs selbst dann nicht erkennt, wenn er ihr auf den Kopf fällt. Entschuldigungsverweigerer, die es mit Elton John halten: »Sorry seems to be the hardest word.« Zu groß ist offenbar die Panik, dass, wer Verantwortung übernimmt, auch zur Verantwortung gezogen werden könnte.
    Kein Wort des Bedauerns auch von dem Orthopäden, den der 66-jährige Wolfgang G. nach einem Sturz mit blutender Hand aufsuchte. Der Facharzt stellte einen Haarriss fest und schiente die linke Hand bis zum Ellenbogen. Wolfgang G. tritt kurz danach mit seiner Frau eine Kreuzfahrt an. Schon bald wird die Hand blau. Der Schiffsarzt schneidet den Verband auf und findet darunter üble Gerüche vom schon verfaulenden Fleisch. Offenbar hatte niemand an
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