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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer
Autoren: Constanze Kleis
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2010 mehr als 2000 Patienten bei der unabhängigen Gutachterkommission der Ärztekammer Nordrhein beschwert hätten, weil sie sich schlecht behandelt fühlten. Gutachter haben die Vorwürfe überprüft und erstmals die Gründe für die Beschwerdelawine analysiert: Den Ärzten waren die meisten Fehler gar nicht bei der Therapie passiert (25 Prozent), sondern bei der Diagnose (39 Prozent). Die Dunkelziffer der Unzufriedenen und falsch Behandelten dürfte allerdings höher liegen. Auch weil manche Ärzte sich in einer ähnlichen mentalen Lage befinden wie ein von einem elterlichen Fanclub großgezogener achtjähriger Sonnenkönig, den man nicht mal in Sichtweite des gefährlichen Verdachts kommen lässt, er könnte etwas tun, das nicht geradezu genial ist. Eine Annahme, die – mea culpa – allerdings auch von den Patienten selbst befeuert wird.
    So gern man hierzulande sein Mütchen an Menschen kühlt, die ziemlich sicher nicht zurückbeißen dürfen – wie etwa Kellner, Putzfrauen, Verkäuferinnen –, so kollektiv kneift man vor der Autoritätsperson in Weiß. Wir sind die Schafe, von denen Arthur Schopenhauer schreibt, sie würden dem Leithammel nachgehen, wohin er auch führt, weil es ihnen leichter sei »zu sterben als zu denken«. Kaum jemand beschwert sich direkt oder gibt zumindest eine Rückmeldung. Sind sie nicht zufrieden, wechseln Patienten lieber den Arzt, ohne den Kompetenzvortäuscher darüber zu informieren, welch kapitalen Bock er geschossen hat. So entgehen gerade denjenigen, die es besonders nötig hätten, auf ein paar gravierende Unterschiede zwischen ihnen und dem Allmächtigen hingewiesen zu werden, einige für den Patienten bisweilen lebenswichtige Lektionen in Fehlbarkeit. Das Patientennomadentum und Ärzte-Hopping verursacht aber nicht nur persönliche Dramen, sondern auch Kosten. Der Arztreport der Krankenkasse BARMER GEK zählt vor, dass jeder zehnte Deutsche im Jahr zu mehr als sechs Ärzten geht und rund ein Prozent der Patienten sogar mehr als zehn Ärzte pro Jahr aufsuchen. [2] Sicher sind darunter einige, denen es wahnsinnig viel Freude bereitet, in überfüllten Wartezimmern darauf zu hoffen, in diesem Leben noch einmal einen Behandlungsraum von innen zu sehen. Die Mehrheit aber dürfte einfach nur auf der Suche nach dem Arzt ihres Vertrauens sein.
    Allein die Diagnose meines doppelten Bandscheibenvorfalls etwa hat drei Orthopäden und eine – privat zu zahlende – völlig nutzlose Schiene zur Stabilisierung des intakten Handgelenks verschlissen, bis der letzte Facharzt tatsächlich die Ursache für die Taubheitsgefühle in beiden Händen fand. Einen Frauenarzt habe ich gewechselt, weil der mich bei meinen Besuchen dauernd nach Krankheiten fragte, die ich gar nicht gehabt hatte: ›Was macht Ihr Scheidenpilz? Alles wieder gut?‹ Jeder kennt solche Geschichten – wie sie auch eine Freundin erlebte. Sie besuchte die Vertretung ihrer Hausärztin, nachdem sie sich schon zwei Wochen sehr schlecht gefühlt hatte. Der Allgemeinmediziner ließ sich die Symptome schildern, schaute sie an und meinte, sie habe gar nichts. Als sie darauf bestand, sich wirklich krank zu fühlen, bot er ihr – leicht entnervt – ein Antibiotikum an. Das lehnte sie ab. Begründung: Ohne Befund, einfach so ins Blaue hinein, wollte sie keine Medikamente nehmen. Als es ihr immer schlechter ging und ihre Hausärztin schließlich aus den Ferien zurück war, stellte die Medizinerin Pfeiffersches Drüsenfieber fest. Meine Freundin hat weder den ersten Arzt angerufen noch ihm eine Mail geschickt, um ihm eine seinen Fähigkeiten angemessene berufliche Alternative vorzuschlagen. Dabei kann man noch froh sein, wenn man ›bloß‹ in einem Bereich kränkelt, der nicht das Leben kostet. Meine Tante litt lange unter Rückenschmerzen. Ihr Hausarzt, den sie deshalb mehrfach aufsuchte, sah keinen Anlass, sie zu einem Facharzt zu überweisen. Stattdessen erklärte er ihr, der Vollzeithausfrau, wie man den Staubsauger richtig bedient, damit der Rücken nicht belastet wird. Ihr Brustkrebs nutzte dankbar die so gewonnene Zeit, um weiterhin in ihre Wirbelsäule zu metastasieren. Meine Tante starb ein Jahr später mit prima Staubsaugerkenntnissen.
    Beim großen Mediziner-Glücksrad hat eigentlich jeder schon mal eine mehr oder weniger große Niete im weißen Kittel gezogen. Je älter man wird, umso mehr fallen diese Erlebnisse ins Gewicht. Spätestens nach dem vierzigsten Geburtstag erlebt man, wie das Unterhaltungsprogramm im
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