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Sterben Sie blo nicht im Sommer

Sterben Sie blo nicht im Sommer

Titel: Sterben Sie blo nicht im Sommer
Autoren: Constanze Kleis
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ihre Brille links nicht richtig hinter dem Ohr sitzt oder ihre Jacke über die linke Schulter rutscht. Mein Vater behauptet tapfer, alles sei wie immer. Als könnte er dem Alltag damit eine Nachspielzeit verschaffen. Doch ich finde die Symptome mittlerweile alarmierend. Am Montag rufe ich sofort ihren Hausarzt an. Äußere meinen Verdacht: Ein kleiner Schlaganfall vielleicht? Herr Doktor findet es rührend, wie ich mich um meine Mutter sorge. Er sagt es in einem Tonfall, aus dem man mühelos heraushört, wie übertrieben er diese Sorge findet. Trotzdem: Meine Mutter soll sofort vorbeikommen.
    »Er hat mich zum Kardiologen überwiesen«, berichtet mir meine Mutter später am Telefon mit dieser merkwürdig schwachen und krächzenden Stimme, mit der sie jetzt spricht. Ich bin kein Medizinexperte. Aber wozu ein Herzspezialist, wenn da etwas ist, was die Persönlichkeit offenbar so massiv verändert? Auch eine Überweisung zum Neurologen hat ihr der Hausarzt gegeben. Der Kardiologe ist auf den kommenden Montag terminiert, der Neurologe in zehn Tagen. Am Nachmittag habe ich die beste Freundin meiner Mutter am Telefon. Sie sagt, da stimme etwas nicht. Auch ihr ist aufgefallen, was längst nicht mehr zu übersehen ist: Meine Mutter ist eine andere. Ich fahre abends außerplanmäßig zu meinen Eltern. Morgen will ich den Arzt gemeinsam mit meiner Mutter aufsuchen. Ich werde darauf bestehen, dass da etwas sein muss, was ganz sicher nicht auf die lange Bank geschoben werden kann.
    »Sie haben ja keinen Termin!«, stellt die Sprechstundenhilfe fest. Und: »Klar können Sie warten. Aber ich sage Ihnen gleich: Das bringt nichts. Herr Doktor ist völlig ausgebucht, und ich werde Sie bestimmt nicht dazwischenlassen. Nein, auch nicht, wenn Sie hier den ganzen Vormittag herumsitzen. Sie haben doch Ihre Überweisungen. Was wollen Sie denn noch?« Ja, was wollen wir eigentlich? Vielleicht ein bisschen mehr Respekt? Mehr Sorgfalt? Ein wenig mehr Kompetenz hätte allerdings auch schon gereicht. Zu den Dingen, die dieser Arzt nicht mal in Erwägung gezogen hat, zählt ja nicht nur der Umstand, dass wir Kunden sind und keine Bittsteller, sondern auch die Möglichkeit einer akuten neurologischen Störung: Bei meiner Mutter werden bald andere »eine ca. 7 bis 8 Zentimeter durchmessende Raumforderung mit perifokalem Ödem und Verlagerung der Mittellinie« feststellen. Kurz: einen Gehirntumor, der meine Mutter in wenigen Wochen umbringen wird.
    Heute denke ich, wir hätten einfach schreien sollen. Ich hätte der Sprechstundenhilfe eine Szene machen können, wegen der sie heute noch mindestens zweimal wöchentlich zur Therapie muss. Aber ich lasse mich mit meiner lächelnden Mutter tatsächlich einfach wegschicken. Ich möchte zu gern glauben, dass es hier nicht um Leben und Tod geht. Dass dieser Arzt weiß, was er tut oder eben unterlässt. Und deshalb: Ja, ich gehöre auch zu den Umfallern, die Seiner Majestät, dem Arzt, keinesfalls Scherereien machen möchten. Die bloß nicht unangenehm auffallen wollen, die auch dann noch tapfer behaupten, dass der Kaiser super Kleider anhat, wenn der selbst schon schreit – »Hey, siehst du das nicht: Ich bin doch nackt!« Der einzige Trost: Ich bin nicht allein. Ganz Deutschland, das bestätigen regelmäßig die einschlägigen Umfragen, ist ein einig Volk von Weißkittelverehrern, allzeit bereit, etwaige Zweifel, es könnte sich bei Ärzten auch bloß um Menschen handeln, unter einem Container voller Vertrauensvorschüssen zu begraben. Vielleicht personifiziert der Arzt ja unseren ewigen Kindertraum von einem höheren Wesen, das uns, mächtig und über jeden Zweifel erhaben, an die Hand nimmt? Möglicherweise ist es nur Selbstschutz, wenn wir jenen, die an den Schaltstellen unserer Gesundheit sitzen, blind folgen, weil uns kaum etwas anderes übrig bleibt. Vielleicht liegt es an vertrauensbildenden Maßnahmen wie »Dr. House«, an »Emergency Room« und ›Dr. Brinkmann‹. Jedenfalls nehmen im Gesundheitswesen Tätige regelmäßig gemeinsam mit Feuerwehrmännern und Piloten Spitzenplätze beim Image-Ranking ein. Womit wir schon beim ersten großen Fehler sind, den man als Kranker machen kann: seinen Arzt auf ein Podest zu stellen. Denn auf das ärztliche Urteil, auch das bestätigen Studien, ist oft kaum mehr Verlass als auf Kim Jong-un. »15 Prozent aller Befunde in Praxen und Kliniken sind schlicht und ergreifend falsch«, schreibt der Spiegel. [1] Und dass sich zwischen September 2009 und Oktober
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