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Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)

Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)

Titel: Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
Autoren: Holly-Jane Rahlens
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von einer Wärme, die sie von den Spitzen ihrer rot lackierten Zehennägel bis zum letzten Haarfollikel auf ihrem Kopf spürte. Ihre Kindheit war zurück, das kühle Blau, dieses Gefühl von Glück und Sicherheit, das sie zurückgelassen hatte.
    Aber etwas am Vorhang war anders – das blaue Seidenchiffonfutter fehlte. Elisabeth gestand im beiliegenden Brief, dass ihre Mutter, seit dem Tod von Elisabeths Vater an der Front Alleinversorgerin der Familie, den Chiffon 1946 auf dem Berliner Schwarzmarkt gegen Lebensmittel eingetauscht hatte. Doch den goldenen Faden, mit dem Chiffon und Satin zusammengenäht waren, hatte sie aufbewahrt. Und da war er, fein säuberlich gewunden um Holzspulen, der Faden, den Channas Großmutter Sonja ihrer Mutter Galja geschenkt hatte, die damit vor sehr langer Zeit den Wandbehang zusammengenäht hatte.
    Am folgenden Tag fuhren Mutter und Tochter, Channa und Josephine, mit der Linie F nach Manhattan und kehrten mit mehreren Metern schönen, mitternachtsblauen Chiffons nach Hause zurück. Und mit dem alten goldenen Faden, der einst ihrer Großmutter Sonja und dann ihrer Mutter Galja gehört hatte, nähte Channa die beiden Stoffstücke zusammen.
    An den Fenstern ihrer Wohnung in Queens hingen schon Gardinen und Volants, wie es damals Mode war. Und so wurde aus dem Wandbehang eine schöne Tischdecke, die viele Jahre lang bei besonderen Anlässen aufgelegt wurde: bei Jahrestagen, Geburtstagen und Feiertagen. Schon bald war sie mit Flecken und Brandstellen von Kerzen übersät, aber das störte weder Channa noch Josephine. Sie waren glücklich, ihr Familienerbstück und ihre Erinnerungen wiederzuhaben.
     
    In der Zwischenzeit war Josephine eine junge Frau geworden. Wohin sie auch sah, wurden Babys geboren. Die Männer waren aus dem Krieg zurückgekehrt, und im Amerika der Nachkriegszeit gründete jeder eine Familie. Als Teenager hatte Josephine mit dem Gedanken gespielt, Mode zu entwerfen oder Modefotografin zu werden, doch im ersten Collegejahr entschied sie sich für den Lehrerberuf. Sie war überzeugt, das wäre eine bessere Wahl und außerdem krisensicher: Die vielen neugeborenen Kinder würden jede Menge guter Lehrer brauchen. Und ihr selber würde es mehr Freude machen, zu unterrichten, als reiche Leute einzukleiden.
    Vier Jahre später stand Josephine vor einer Highschoolklasse und unterrichtete Englisch und Deutsch. Ihre Schüler, ihre Familie und ihr Leben wurden die Motive ihrer Fotografien.
     
    An einem besonders heißen Sommermorgen im Jahr 1956  – an einem Tag, an dem New Yorker schworen, man könne sich auf dem Gehsteig ein Spiegelei braten – floh Josephine vor der Hitze in die New Yorker Catskill-Berge. Am Hotel-Swimmingpool saßen zwei Männer unter einem orangeweiß gestreiften Sonnenschirm und winkten Josephine zu sich. «Sie spielen nicht zufällig Skat, oder?», fragte der eine mit den dicken Brillengläsern und dem dicken Akzent.
    «Allerdings!», sagte Josephine.
    Und der Rest ist Geschichte.
     
    Der Mann mit den dicken Brillengläsern und dem dicken Akzent war Artur Zwickel, ein Berliner wie Josephine, fünfzehn Jahre älter als sie und Honorarprofessor für Geschichte an der New York University.
    Artur war anders als die meisten Amerikaner, die Josephine kannte. Im Sommer trug er Anzüge aus Leinen, im Winter aus Tweed, er redete leise und war gebildet, zurückhaltend, aber aufmerksam. Er spielte deutsche Kartenspiele. Und Klavier.
    Josephine und Artur heirateten bald. Wenig später kam ein Sohn zur Welt. Und dann noch einer. 1964 bot man Artur eine feste Professur an der Freien Universität in Berlin an. Das Angebot war nicht leicht abzulehnen – aber ihr Zuhause aufzugeben war ebenfalls nicht leicht. Artur und Josephine stellten eine Pro-und-Kontra-Liste auf. Sie redeten mit der Familie und mit Freunden. Sie prüften ihr Bankkonto. Mit gemischten Gefühlen nahmen die Zwickels Abschied von ihrem Leben in New York und gingen wieder zurück nach Berlin.

Siebtes Kapitel B erlin – New York – Berlin
    So kam es, dass Josephine wieder in Berlin lebte, der Stadt ihrer Kindheit. 1939 hatte sie es mit nichts verlassen, aber nun – 25 Jahre später – kehrte sie mit einem Mann, zwei Söhnen und einem leichten amerikanischen Akzent zurück. Und dann kam Isabel Zwickel dazu. Das war 1965 .
     
    «Mama!», rief Stella und sprang von Josephines Schoß. «Isabel ist Mama!»
    «Scht!», sagte Josephine lachend und legte ihren Finger auf den Mund. «Nicht so laut,
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