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Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)

Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)

Titel: Stella Menzel und der goldene Faden (German Edition)
Autoren: Holly-Jane Rahlens
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gehen? Josephine bekam keine Antwort. Sie wollte sich wenigstens von ihrer Freundin und Spielgefährtin verabschieden, Elisabeth Brunnen, der Hausmeisterstochter im dritten Stock. Doch ihre Eltern verboten es: «Nein. Kommt nicht in Frage.»
    Noch vor Sonnenaufgang stahl sich die Familie Auerbach in die dunkle Stadt. Karl, der frühere Büroleiter ihres Vaters, packte sie alle in sein Auto und fuhr los. Nach vielen Stunden erreichten sie die belgische Grenze. Karl umarmte sie, wünschte ihnen viel Glück, übergab sie einem alten Freund, Herrn Muckel, und fuhr nach Hause zurück. Herr Muckel zeigte ihnen mitten in der Nacht, wo sie die Grenze überqueren sollten, und überließ sie dann sich selbst.
    Die Auerbachs schlichen zu Fuß nach Belgien. Erst in Brüssel erfuhr Josephine, wohin die Familie gehen würde (nach New York) und warum (die Juden waren in Deutschland in großer Gefahr). Josephines ältere Geschwister Maxim und Gesa waren bereits in New York bei Verwandten der Auerbachs. Die Familie wäre wieder zusammen, sobald man ihnen die Einreise in die Vereinigten Staaten erlaubte.
    An ihrem ersten Abend in Brüssel stellte Channa erschrocken fest, dass sie den blauen, satinseidenen Wandbehang am Kinderzimmerfenster hatte hängen lassen. Sie war kreuzunglücklich. «Das war gut so», sagte Reuben, um sie zu trösten. «Wenn wir ihn abgenommen hätten, hätten sie gewusst, dass wir wegwollen, und uns vielleicht aufgehalten.»
    Nach vielen Wochen in Brüssel bekamen die Auerbachs ihre Visa, und sie eilten nach Antwerpen, wo sie an Bord eines Schiffes nach New York gingen. Auf dem Meer hob sich ihre Stimmung, und Josephine freute sich darauf, die Familie bald wieder vereint zu sehen. Das erleichterte es ihr ein wenig, von zu Hause wegzumüssen, ohne sich von ihren Freundinnen verabschieden zu können – noch nicht einmal von Elisabeth, der Hausmeisterstochter von oben.

Sechstes Kapitel H opscotch und Skat
    Und so wurde Josephine Auerbach im Alter von neun Jahren New Yorkerin. Sie lernte, auf den Straßen von Queens Hopscotch zu spielen, im Kino Popcorn zu mampfen und in der Schule perfekt Englisch zu sprechen. Zu Hause allerdings redeten die Berliner Auerbachs (wie sie von Freunden und Nachbarn liebevoll genannt wurden) immer noch Deutsch, aßen Rollmops, spielten Mensch ärgere dich nicht und kauften sogar ein paar Sätze Spielkarten und gründeten ihren eigenen Skatverein.
    Die Auerbachs lebten nicht mehr so gut wie früher. Reuben hatte das Familienunternehmen in Berlin weit unter Wert verkaufen müssen. Als sie flohen, hatten sie Kleider, Möbel, Bücher und all ihre Habseligkeiten zurücklassen müssen. In New York landeten sie nur mit dem, was sie auf dem Rücken und in ihren Koffern trugen. Aber das war nicht schlimm. Sie waren arm, gewiss, aber sie waren zusammen und lebten, und Reuben fand schon bald eine gute Arbeit als Schnittmacher im New Yorker Textilviertel in Midtown Manhattan.
    Die Jahreszeiten kamen und gingen. Es verstrich viel Zeit. Josephine entwickelte sich zum Teenager, während in Europa der Krieg tobte, während Abermillionen europäischer Juden von den Nazis ermordet wurden, während die letzten Reste ihrer russischen Familie in St. Petersburg den Hungertod starben, als die Stadt unter deutscher Belagerung war …
     
    Und dann war der Krieg vorbei. Matrosen tanzten in den Straßen. Die Männer kamen nach Hause.
    An einem Tag gegen Frühlingsende, fast zehn Jahre nach ihrer Ankunft in New York und drei Jahre nach Kriegsende, als Josephine gerade achtzehn war, erhielt die Familie Auerbach einen Brief aus Berlin. Er kam von Elisabeth Brunnen, der Hausmeisterstochter aus ihrem alten Mietshaus: Seid ihr die Familie Auerbach aus dem zweiten Stock in der Wielandstraße  13 in Berlin-Charlottenburg? Josephine schickte einen Brief zurück: Ja, Elisabeth, ja! Ich bin’s, Josephine! Deine alte Freundin! Wir leben noch, alle!
    Weitere Briefe kamen, und weitere wurden zurückgeschickt. Josephine kaufte sich von ihrem Geburtstagsgeld eine Kamera, machte Fotos von ihrer Familie und schickte sie nach Berlin. Und dann, viele Wochen später, erhielten die Auerbachs ein Paket von Elisabeth Brunnen. Darin war der Vorhang aus Seidensatin mit der silbernen Brokatstickerei.
    Channa weinte. Ihre Mutter, ihr Vater, St. Petersburg waren plötzlich so nah. Sie sah den frischen, weißen Schnee, das orangerote Schimmern in den Fenstern, sie hörte das knackende Holz im Kamin.
    Da weinte Josephine auch, erfüllt
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