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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich
Autoren: Wo die Löwen weinen
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von Tränen. Lauter als
das Schluchzen aus dem Mund. Er empfand eine große Leere dort, wo einst seine
Armbanduhr gewesen war. Geradezu durchtrennt. Er konnte die Hand kaum noch
fühlen. Dafür jedoch den warmen Urin an seinen Beinen. Er wäre jetzt gerne für
einen Moment tot gewesen. Fünf oder zehn Minuten. Wie am Ende eines
Schachspiels, wenn die Figuren mit einem Handstreich vom Brett befördert
werden. Aber das spielte es nicht. Der Tod verschenkt keine Zeit.
    Kurz darauf wurde er von zwei Joggern entdeckt. Sie zogen
ihre Jacken aus und hüllten den Jungen ein, dann riefen sie die Polizei.
     
    Ein Lauscher namens Kepler
     
    Rosenblüt hatte eigentlich beschlossen gehabt, Stuttgart
für immer hinter sich zu lassen. Ein frommer Wunsch! Obgleich einige Jahre ja
alles gutgegangen war. Nicht, daß er ein richtiger Freund von München geworden
wäre. Die Stadt war ziemlich abhängig vom Wetter beziehungsweise schien sie in
einem chamäleonartigen Gleichklang mit dem Wetter zu sein. Lachte die Sonne und
strahlte der Himmel, dann auch die Stadt. War das Wetter beschissen, dann
München dito. Das war schlimmer als in den anderen Städten, die sich ja oft
gegen schlechtes Wetter wenigstens zu wehren versuchten, bemüht waren, sich vom
Wetter nicht völlig herunterziehen zu lassen. München aber ... egal. Er war hier
gut aufgehoben, bewohnte eine Dachgeschoßwohnung nahe dem Englischen Garten,
war mit einer japanischen Fotografin liiert und wurde von den Kollegen im
Kriminalfachdezernat 1 respektiert, mitunter sogar geschätzt.
    Auch wenn üblicherweise Strafversetzungen in Richtung
Provinz erfolgen, so war in seinem Fall die Degradierung mittels München geschehen.
Der Wechsel von einem Bundesland in ein anderes widersprach zwar den Regeln,
andererseits konnten die beiden Dienstherren damit die Weichheit der Regeln
unterstreichen. Zudem meinte man Rosenblüt auf diese Weise besser und
eindringlicher strafen zu können, als ihn in eine baden-württembergische
Wüstenei abzukommandieren. Man hoffte, in München würde ihn das Schicksal von
Wollsocken ereilen, die in einen nimmer endenden 90-Grad-Waschgang geraten
waren.
    Rosenblüt hatte sich nämlich nach erfolgreichen Jahren als
leitender Ermittler mit seinen Stuttgarter Vorgesetzten angelegt, indem er
entgegen einer Weisung von höchster Stelle in einem wichtigen Fall weitergeforscht
hatte. Er war in dieser Sache von seiner eigenen Sturheit überrascht gewesen.
Schließlich war er weder ein geborener Revoluzzer noch ein Don Quichotte, eher
zählte er zu den dandyhaften Genießern. Keiner, der die Welt zu verändern
suchte. Er glaubte nicht an Veränderbarkeit. Vielmehr begriff er die
Verwandlungen der Welt in die eine oder andere Richtung als bloße
Schaukelbewegung. - Die Schaukel hängt immer am gleichen Baum, sie fliegt nie
davon, sosehr man das, am jeweils höchsten Punkt angelangt, auch glauben mag.
    Rosenblüt war Polizist geworden, weil er das Odeur dieses
Berufs mochte. Die Kriminalistik hatte einfach besser als vieles andere geduftet,
an dem er als junger Mann geschnuppert hatte. Etwa Kunstgeschichte, wo sein
Vater, Professor in selbigem Fach, ihn gerne gesehen hätte. Doch die
Kunstgeschichte hatte verdorben gerochen, die Kriminologie hingegen frisch und
verführerisch, geradezu frühlingshaft, trotz der meist häßlichen Thematik. Das
war freilich nicht das Vokabular, um es anderen zu erklären. Aber für ihn
selbst war es genau so gewesen. - Aus dieser tiefen, geradezu kreatürlichen
Beziehung zu den diversen Erscheinungsformen des Verbrechens hatte sich dann
wohl der Umstand ergeben, daß fast jeder es unterließ, selbst noch im Privatbereich,
Rosenblüt mit seinem Vornamen anzusprechen, sondern immer nur mit "Kommissar"
oder "Rosenblüt" oder "Kommissar Rosenblüt". Einer seiner
Freunde hatte einmal gesagt: "Vornamen sind was für normale Menschen."
Schwer zu sagen, ob das ein Kompliment gewesen war.
    Wie auch immer - Rosenblüts Ehrgeiz war zu jeder Zeit
gewesen, Fälle zu lösen und nicht etwa die Verlogenheit des Systems zu offenbaren.
Weisungen gehörten nun mal zum Spiel dazu, selbst wenn sie den Duft seines
Berufs beeinträchtigten. Da hätte er im Fach der Kunstgeschichte, deren
Bösartigkeit gerne übersehen wird, mindestens soviel aushalten müssen. Aber er
war in diesem einen Moment wie blind gegen das drohende Schicksal gewesen,
hatte die Ermordung einer jungen Prostituierten nicht auf ein milieubedingtes
Allerqeltsverbrechen herunterspielen
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