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Steinfest, Heinrich

Steinfest, Heinrich

Titel: Steinfest, Heinrich
Autoren: Wo die Löwen weinen
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Liegestützerei geholfen hätte, es mit diesen
Gestalten aufzunehmen: fünf Burschen, junge Türken, die ärmellose Shirts
trugen, damit man ihre Oberarme besser sehen konnte. Schöne Oberarme, geradezu
poliert, braun, glänzend, Bronze im warmen Schein, heldische Gestalten, mit
denen etwas ordentlich schiefgelaufen war. Auch die Silberkettchen und die
Sonnenbrillen glänzten. Eine Gangstertruppe wie aus dem Bilderbuch von MTV, als
würden sie gleich zu tanzen anfangen. Aber sie tanzten nicht, sondern redeten
im Klang jener Sprache, die aus einem Rasenmäher zu kommen schien. Eine
Sprache im latenten Zustand der Selbstverarschung. Die Jungs, aus deren stark
verzogenen Mündern Worte wie "Arschnloch" und "Scheißndreck"
behende schlüpften, vermittelten den Zustand einer zur Gänze materialisierten
Karikatur. Und genau darin bestand ja ihre Macht: kein Theaterstück zu sein,
keine Überhöhung, keine auf ein Blatt Papier gezeichnete Überzeichnung, kein
Videoclip, sondern leibhaftig. Die Karikatur in Fleisch und Blut und Kult.
Allerdings doch um einiges kunstvoller und verspielter, als ihre Freunde, die
Neonazis, das hinbekamen. Was nun für Martin, der da im Gras lag und das
Zittern seiner Beine nicht unter Kontrolle bekam, wenig von Bedeutung war: der
gewisse Reiz dieser Selbstverarschung mittels eines Soziolekts. Er verstand
kaum etwas von dem, was man ihm entgegenspuckte, zu rasch wurden die von
sch-Lauten dominierten Salven abgeschossen. Aber wahrscheinlich sollte er
sowieso nichts verstehen, das Bedrohliche ergab sich aus dem Geheul eben jenes
Rasenmähers.
    Das war tatsächlich der springende Punkt: wie sehr nämlich
die Würde dieser Stänkerer und Schläger daraus erwuchs, beim anderen - dem "Bastard",
der "Mißgeburt" - Angst hervorzurufen. Auf diese Weise bekamen sie
den Respekt gezollt, den ihnen die Integrationsbeamten nicht hatten
verschaffen können. Nur, daß der Respekt nicht ihrer orientalischen Aura galt,
sondern dem Messer, das da aus ihrer Sprache ragte, genauer: dem Messer aus der
Tasche. Dem Mörderblick, der Breitbeinigkeit, dem Kriegsschmuck. Ja, sie waren
Krieger in einem ganz unheiligen Krieg, krasse Krieger, im Sinne der Verwandtschaft
von kraß und gräßlich. Wenn sie sich gegenseitig fragten "Was geht ab, ey?",
dann hätte man das eigentlich wörtlich nehmen müssen. In der Tat ging ihnen
etwas ab. Denn der Krieger, jeder Krieger, entwickelt sich aus einem Defizit,
einer Lücke. Immer dort, wo ein Vakuum entsteht, ein Loch, eine Spalte, keimt
der Krieger hoch.
    Die anderen Jungs, die, welche so offenkundig deutsch
aussahen, sollten sich fürchten. Davor fürchten, blöd in der Straßenbahn herumzustehen
und in die falsche Richtung zu glotzen. Wobei mit "den" Deutschen gar
nicht die mit den Springerstiefeln gemeint waren, die ja derselben Gattung
angehörten und bloß eine andere Varietät der Respekt-durch-Angst-Gruppe
darstellten. Martin hingegen war ein braver Junge mit Rehaugen, "so 'n
Spasti aus Villaville", keiner von der Straße, sondern aus begütertem
Haus: blaß, mit dünnen, blonden Haaren, androgyn, im Nobelghetto beheimatet, in
den Privatschulen, dem Klavierunterricht, der Fürsorglichkeit
putzfrauengeputzter Badezimmer.
    Martin war in eine Elite eingesperrt, ohne dafür aber ein
echtes Bewußtsein zu besitzen. Er verfügte im Grunde über keine Sprache, mit
der er sich identifizierte, außer der Sprache des Schachspiels. Doch wer
verstand die schon? Ein paar ältere Herren, mit denen er sich im Park traf, ein
paar Leute, mit denen er über das Netz Kontakt hatte, aber bereits seine Eltern
wußten nicht, was er meinte, wenn er eine bestimmte Lebenssituation mit der
Robatsch-Verteidigung verglich. Ganz klar, dieses Schachzeug war nicht ihre
Idee gewesen. Für sie war Schach wie Lyrik, beides ganz okay, da partikelhafter
Teil einer höheren Bildung, jedoch nichts, mit dem man Furore machen konnte,
wurde man nicht Schachweltmeister oder Büchnerpreisträger. Wobei seine Eltern
im Grunde auch auf einen Büchnerpreisträger verzichten konnten, weil man das ja
nur einmal wurde.
    "Arsch hoch, Schwuchtelgoi!" sagte der, der hier
der Anführer zu sein schien und eine Spur älter wirkte, vielleicht
siebzehnjährig.
    Goi? Martin war irritiert. Hatte er sich verhört? Wie kam
ausgerechnet ein Türkenjunge dazu, ihn einen Goi zu schimpfen? Nun, er war ja
auch einer, dennoch ... Die fünf Kerle traten jetzt nahe an ihn heran, er
spürte ihren Atem, stand da wie in einem warmen Gebläse.
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