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Stadt der Fremden

Titel: Stadt der Fremden
Autoren: China Miéville
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dem besten von allen, doch Yohn konnte seinen Namen mehrere Leisten weiter als ich auf den Lattenzaun schreiben. Einige Wochen lang hatte ich mich angestrengt und meinen Atem länger und länger anhalten können. Meine Markierungen waren seinen immer näher gekommen. Also musste er heimlich geübt haben. Er hatte sich zu weit vom Hauch des Äoli entfernt. Ich konnte mir vorstellen, wie er gekeucht hatte, wie er seinen Mund offen ließ und Luft mit der sauren Schärfe der Zwischenzone einsaugte, wie er versuchte zurückzugehen, jedoch ins Stolpern geriet wegen der Giftstoffe und wegen des Mangels an Sauerstoff. Vielleicht war er ohnmächtig geworden und hatte diesen ekelhaften Dunst minutenlang eingeatmet.
    »Sie haben ihn zu mir gebracht«, sagte der Mann erneut.
    Ich gab einen winzigen Laut von mir, als ich plötzlich eine Bewegung bemerkte, halb verborgen hinter einer riesigen Birkenfeige. Ich weiß nicht, wie ich es vorher geschafft hatte, ihn nicht zu sehen.
    Es war ein Gastgeber. Er schritt nun zur Mitte des Teppichs. Augenblicklich stand ich auf, aus Respekt, den man mir gelehrt hatte, und aus kindlicher Furcht. Der Gastgeber trat mit seinem wiegenden, anmutigen Gang vor, in komplizierter Artikulation. Ich glaube, er schaute mich an. Die Formation sich gabelnder Haut, die seine glanzlosen Augen war, betrachtete mich. Er streckte ein Körperglied aus und zog es wieder ein. Ich glaubte, dass er nach mir griff.
    »Er wartet, um zu sehen, was mit dem Jungen geschieht«, teilte der Mann mit. »Wenn er sich wieder erholen wird, dann nur wegen unseres Gastgebers hier. Du solltest ihm Danke schön sagen.«
    Ich tat es, und der Mann lächelte. Er hockte sich neben mir nieder und legte die Hand auf meine Schulter. Gemeinsam schauten wir zu der sich in seltsamer Weise bewegenden Wesenheit hoch.
    »Du weißt, Kleines«, sagte er in freundlichem Ton zu mir, »dass er dich nicht hören kann? Oder … nun … dass er dich hört, aber nur als Geräusch? Doch du bist ein gutes Mädchen. Höflich.« Er gab mir irgendein unzureichend süßes Erwachsenenkonfekt aus einer Schale. Ich redete sanft auf Yohn ein, und zwar nicht nur, weil man es mir gesagt hatte. Ich war erschrocken. Die Haut meines armen Freundes fühlte sich nicht wie Haut an, und seine Bewegungen wirkten beunruhigend. Der Gastgeber hüpfte auf seinen Beinen. Zu seinen Füßen schlurfte eine hundegroße Wesenheit: sein Gefährte. Der Mann schaute auf in das, was das Gesicht des Gastgebers sein musste. Während er darauf starrte, war sein Blick voller Bedauern, oder vielleicht denke ich das auch nur aufgrund der Dinge, die ich später wusste.
    Der Gastgeber sprach.
    Natürlich hatte ich so etwas schon viele Male gesehen. Einige Gastgeber lebten im Zwischenraum, wo wir uns zu spielen trauten. Manchmal standen wir unvermittelt vor ihnen, während sie mit krabbengleicher Präzision irgendwelchen Aufgaben nachgingen oder sogar dabei rannten – in einer Gangart, die den Anschein erweckte, als ob sie stürzen müssten, obschon dies nicht geschah. Wir sahen zu, wie sie die Fleischwände ihrer Nester pflegten oder das, was wir für ihre Haustiere hielten: diese flüsternden Gefährten und Tierdinge. In ihrer Gegenwart wurden wir abrupt ruhiger und bewegten uns von ihnen fort. Wir ahmten die gewissenhafte Höflichkeit nach, die unsere Schichteltern ihnen gegenüber an den Tag legten. Genau wie bei den Erwachsenen, von denen wir es gelernt hatten, übertraf unser Unbehagen jede Neugierde, die wir vielleicht bei den seltsamen Handlungen der Gastgeber hätten empfinden können.
    Wir hörten, wie sie miteinander sprachen, in klaren Tönen, die beinahe wie die Laute unserer Stimmen klangen. Später in unserem Leben mochten einige wenige von uns etwas von dem zu verstehen, was sie sagten; doch jetzt war das noch nicht der Fall, und bei mir niemals wirklich.
    Ich war damals noch nie zuvor einem der Gastgeber so nahe gekommen. Meine Angst um Yohn lenkte mich von all dem ab, was ichansonsten durch diese Nähe empfunden hätte. Doch ich behielt das Wesen im Auge, sodass es mich nicht überraschen konnte, und als es näher an mich heran schaukelte, schreckte ich zur Seite fort und hörte damit auf, meinem Freund etwas zuzuflüstern.
    Die Gastgeber waren nicht die einzigen Außerirdischen, die ich gesehen hatte. Es gab andere, die in Botschaftsstadt wohnten: ein paar Kedis, eine Handvoll Shur’asi und noch mehr. Aber obwohl sie natürlich auch eine gewisse Fremdartigkeit umgab, war bei
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