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Stadt der Fremden

Titel: Stadt der Fremden
Autoren: China Miéville
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wieder vergeblich zu erreichen versuchten. Den riesigen Felsen, der die Stadtgrenze markierte, mochte ich gar nicht. Er war geborsten, dann hatte man ihn mit Mörtel wieder zusammengesetzt (zu einem Zweck, denich noch nicht kannte). Die Bibliothek mochte ich genauso wenig, ihre Zinnen und das Innengerüst empfand ich als beunruhigend. Wir alle liebten das College wegen der glatten Plastonefläche seines Hofes, auf der sich Kreisel und schwebende Spielzeuge meterweit fortbewegten.
    Wir waren ein hektisches Völkchen, und Polizisten wiesen uns häufig in die Schranken. Doch wir brauchten nur zu erwidern: »Ist schon in Ordnung, Sir, Madam. Wir müssen nur gerade …«, und schon konnten wir weitermachen. Wir rannten die abschüssigen und überfüllten Straßen hinunter, mit Tieren, die zwischen uns oder neben uns auf niedrigen Dächern liefen, vorbei an den obdachlosen Automa von Botschafterstadt. Und obwohl wir manchmal eine Rast einlegten, an Bäumen und Schlingpflanzen hochkletterten, erreichten wir am Ende immer den Zwischenraum.
    Dort, am Stadtrand, wurden die Winkel und Plätze unserer Heimatgassen von den unheimlichen Geometrien der Gastgebergebäude unterbrochen, erst einige wenige, dann immer mehr, bis sie unsere eigenen Häuser ganz ablösten. Natürlich wollten wir versuchen, die Gastgeberstadt zu betreten, wo die Straßen ihr Aussehen veränderten und Ziegel-, Beton- oder Plasmawände anderen, lebendigeren Materialien weichen mussten. Ich meinte es ernst mit diesen Versuchen, war jedoch beruhigt, da ich wusste, dass ich damit scheitern würde.
    Wir lagen im Wettstreit miteinander und forderten uns gegenseitig heraus, so weit zu gehen, wie wir konnten. Unsere Grenzlinien markierten wir. »Wir werden von Wölfen gejagt und müssen rennen«, sagten wir uns. Oder wir erklärten: »Wer am weitesten geht, ist Wesir.« In meiner Clique war ich der drittbeste »Südgeher«. An unserer üblichen Stelle gab es ein Gastgebernest in schönen fremdartigen Farben, das man mit knarrenden Muskelseilen zu einer Umzäunung gebunden hatte. In einer gewissen Manieriertheit hatten die Gastgeber es wie einen unserer Weidezäune gestaltet. Dorthin wollte ich schleichen, während meine Freunde in den Querstraßen dazu pfeifen würden.
    Wenn man Bilder von mir aus meiner Kindheit sieht, gibt es keineÜberraschung: Mein Gesicht von damals war genau wie das von heute, nur eben noch nicht vollendet. Der gleiche misstrauisch zusammengekniffene Mund oder das gleiche Lächeln. Wenn ich mich anstrengte, hatte ich den gleichen finsteren Zug um die Augen, über den ich manchmal später selbst lachen musste. Und damals wie heute war ich langgliedrig und rastlos.
    An jenem Tag hielt ich den Atem an und trat mit einer Lunge voller Luft durch jenen Bereich, wo sich die Lüfte mischten – ein Bereich, der nicht ganz eine harte Grenze darstellte, der aber ein bemerkenswert abrupter gasartiger Übergang war. Brisen, die mit nanotechnologischen Teilchenmaschinen geformt wurden, gestalteten die Atmosphäre in beinahe künstlerischer Weise. Ich stieß auf die andere Seite vor, um Avice auf weißes Holz zu schreiben. Und da ich nun einmal in Draufgängerlaune war, betätschelte ich den Fleischanker des Nests, genau dort, wo er die Latten miteinander verflocht. Er fühlte sich so straff wie ein Flaschenkürbis an. Keuchend rannte ich zu meinen Freunden zurück.
    »Du hast es berührt.« Sie sagten dies voller Bewunderung. Danach gingen wir in nördliche Richtung, wo der Äoli blies, und verglichen unsere Erfolge.
    Ein ruhiger, gut gekleideter Mann lebte in dem Haus, vor dem wir mit Münzen spielten. Er sorgte für Unbehagen in der Nachbarschaft. Manchmal kam er heraus, während wir versammelt waren. Er betrachtete uns und schürzte seine Lippen, bevor er sich umdrehte und wegging – es mochte eine Begrüßung sein oder ein Zeichen seiner Missbilligung.
    Wir glaubten, dass wir verstanden, was er war. Wir irrten uns natürlich. Aber wir fingen die Stimmung in der Nachbarschaft auf und sahen den Mann als gebrochen an und betrachteten seine Gegenwart als unangemessen. »He!«, rief ich mehr als einmal zu meinen Freunden, wenn er auftauchte, und wies hinter seinem Rücken auf ihn. »He!« Wenn wir tapfer waren, folgten wir ihm, während er Heckenalleen entlangspazierte und auf den Fluss oder einen Markt zuschritt oder in Richtung der Archivruinen oder der Botschaftging. Ich glaube, zweimal verhöhnte einer von uns ihn aufgeregt. Sofort brachten Passanten
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