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Spurschaden

Spurschaden

Titel: Spurschaden
Autoren: Simon Halo
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hatte.
    Der Nachthimmel war klar. Es hatte aufgehört zu schneien. Für einen kurzen Moment dachte Alexander daran, die Skibrille abzunehmen. Doch er entschied sich anders. Zusammen mit dem Gesichtsschutz konnte so deutlich weniger von der Körperwärme nach außen entweichen. Diese ihn perfekt umschließende Winterbekleidung verglich er mit dem Schutzanzug eines Astronauten. In diesem Ganzkörperanzug fühlte er sich wohl.
    Schon als kleines Kind hatten ihn der Mond und vor allem die erste Mondmission magisch angezogen. Seinem Vater war es nicht anders ergangen.
    Alexander atmete schneller. Überraschend real spielte sich eine ganz bestimmte Szene vor seinen Augen ab. Erstaunlich klar schien er jetzt die Stimme seines Vaters zu hören:
    »Das wird mal dir gehören, mein Sohn!«
    Alexander starrte auf die groben Umrisse des Schneemobils und sah doch nur das handgroße Mondfahrzeug auf dem Schreibtisch seines Vaters.
    »Es gibt nur zehn davon. Ein perfekter Nachbau des echten Mondrovers, bis ins kleinste Detail.« Dann flüsterte der Vater ihm ins Ohr: »Siehst du die Stützen?«
    »Ja«, hörte Alexander sich antworten. Es war die Stimme eines Kindes.
    »Ohne die würde er unter seinem Eigengewicht zusammenbrechen – genau wie das echte Mondfahrzeug!«
    »Und wie konnten die dann damit fahren?«
    »Mit dem Originalmodell gar nicht – nicht auf der Erde.« Sein Vater lachte. »Die Schwerkraft, mein Junge. Auf dem Mond beträgt die Schwerkraft nur ein Sechstel. Und nur für den Mond wurde der Rover ja gebaut. Dort braucht er die Stützen dann nicht. Natürlich hätten sie ihn auch stabiler machen können, aber je weniger Gewicht die Mondrakete befördern musste, desto besser.«
    »In der Schule behaupten einige, dass wir gar nicht auf dem Mond waren. Das Mondfahrzeug ist viel zu groß. Es passt nicht in die Landefähre!«
    »So ein Schwachsinn!« Der Vater schnaufte. Die Gesichtszüge wurden ernst. »Da schau!« Vorsichtig berührte er das Mondfahrzeug-Modell an einigen Stellen mit dem Zeigefinger. »Man kann es zusammenklappen!« Danach zog er den Jungen näher an sich. »Weißt du … wenn man etwas behauptet, dann muss man sich auch sicher sein, dass das stimmt. Merk dir das bitte! Das ist sehr wichtig. Und wenn du etwas nicht weißt, dann …?
    »Dann sag ich nix!«
    Sein Vater lächelte. »Richtig! Und danach machst du dich erst mal schlau. Halbwissen ist gefährlich!
    Und nochmal zur Mondlandung. Das war in den Zeiten des Kalten Krieges. Kapitalismus gegen Kommunismus. Man könnte auch sagen: Die erste Nation auf dem Mond war der Gewinner. Und glaubst du, die Russen hätten sich reinlegen lassen? Die hätten ›Alles Betrug!‹ in ihren Zeitungen gedruckt. Die hätten geschrien und getobt!« Der Vater lachte. »Naja, getobt haben die sicher trotzdem. Die hatten auch ein Mondprogramm. Allerdings ist deren Rakete ständig explodiert.«
    »Die Astronauten sind alle gestorben?«
    »Mmm …« Sein Vater machte ein nachdenkliches Gesicht. »Das weiß ich nicht. Vermutlich waren das alles Versuchsraketen; also ohne Besatzung. Aber bei komplexer Technik … da stirbt immer einer. Das kannst du dir merken.«
    Die Sicht verengte sich. Es hatte wieder angefangen zu schneien und die Skibrille verbarg große Teile der Außenwelt. Erst jetzt nahm Alexander die Feuchtigkeit wahr, die sich im Halsbereich gesammelt hatte. Tränen, die über die Wangen und unmittelbar am Ohr vorbeigeflossen waren – und das nicht zu knapp.
    Alexander richtete sich auf. Er hatte es plötzlich eilig. Während er hastig den Schnee von der Kleidung schüttelte und dabei zum Aufwärmen gegen einen unsichtbaren Feind boxte, dachte er an seine Mutter. Er musste sich um sie kümmern. Jetzt war er der Mann im Haus.

31
    Es gibt Tage, bei denen einfach alles zusammenkommt. Alexander kalkulierte diese Tage ein bis zwei Mal pro Jahr fest ein. Es war sinnlos, sich dagegen zu wehren, das zeigte die Erfahrung. Was aber dieses Mal neu war, das war die Dauer: Ein Tag folgte dem anderen; jedem Schmerz folgte ein größerer. Die Zeitungen überboten sich gegenseitig mit den Schlagzeilen. Bereits am zweiten Tag war vom Selbstmord eines bekannten Wissenschaftlers die Rede – und zwar überregional. Dann schlossen sich die Boulevardblätter an; die Stimmung änderte sich. Von gefährlichen Spielen eines genialen Quantenphysikers war die Rede, von illegalen Versuchen an Menschen. Die bisherigen Schreckensmeldungen über Gewalt an Kindern wurden
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