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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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zu machen, um anschließend Kopien des Protokolls an irgendwelche Ärzte und Psychologen zu verteilen. Ich weiß nicht, ob er das je verstanden hat. Aber egal – ich würde ihm trotzdem jedes Jahr einen Geburtstagskuchen backen, wenn ich nur wüsste, dass er sich darüber freuen könnte.
     
    Zurück zu meiner Geschichte, denn die geht da weiter, als das kleine Mädchen beschließt, den widerlichen Körper so bald wie möglich los zu sein und anschließend schnellstens erwachsen zu werden, damit es ausziehen kann, in ein sicheres Haus, in ein neues Leben, Hauptsache weg – weit, weit weg.
    Das Mädchen spricht nicht mehr viel, und wenn es redet, dann zu laut, zu aufgedreht, zu übermütig. Es streitet mit den anderen Kindern, es will alleine sein, es sitzt in der hintersten Ecke vom Sandkasten und buddelt ein Loch, in dem man sich verstecken kann. Es kneift mit boshaften Fingern in seinen Körper, es streckt seinem Spiegelbild die Zunge raus, es weint nachts, es badet in eiskaltem Wasser, bis seine Lippen violett angelaufen sind und es sich kaum noch bewegen kann, es will immer in der Nähe seiner Mutter sein, aber die versteht das intensive kleine Mädchen nicht – es ist seiner Mutter lästig, weil es viel zu viel Raum für sich beansprucht.
    Da verändert sich das kleine Mädchen, es beginnt die Gedanken in seinem Kopf zu verdrehen, es erfindet neue Freunde, unsichtbare flüsternde Gestalten, mit denen es reden kann und die immer da sind. Es gibt eine Geheimsprache, geheime Spiele, geheime Regeln. Dort, in dieser unwirklichen Welt, fühlt sich das Mädchen sicher, und es zieht sich dahin zurück, sooft es möglich ist.
    Das Mädchen verdrängt, es vergisst – es lässt den schmutzigen Teil von sich ganz tief in seinem Innersten verschwinden.
    Die Zeit vergeht.
    Das Mädchen ist dankbar. Denn ein kleines Kind zu sein ist schlecht, da ist es sich sicher. Und es zerkratzt sich seine Arme, um einen anderen Schmerz zu spüren, einen greifbaren, der abklingt und verheilt; es boxt sich in den Bauch, liegt nackt und zitternd bei weit geöffnetem Fenster auf dem Fußboden und friert, weil es nichts Besseres verdient hat, weil sein Körper leiden muss.
    Schließlich wird das Mädchen älter, es kommt mir näher und näher; und ich kann nicht mehr »es« und »das Mädchen« schreiben.
    Denn das kleine Kind geht so nahtlos in mich über, dass keine Lüge der Welt das vertuschen kann.

2
    A n dem Tag, an dem ich zum ersten Mal gestorben bin, habe ich mit meinen drei Lieblingskuscheltieren »Sturmflut« gespielt. Der Ikea-Delphin, die ausgewaschene Flugente und der lilafarbene Littlefoot-Dinosaurier waren die Auserwählten, die auf dem Bettlakenschiff aus den aufbrausenden Wellen gerettet wurden. Im Nachhinein kommt mir das ziemlich dumm vor. Delphine und Enten können schwimmen. Ich hätte stattdessen meinen Affen und eins von den Kaninchen mit an Bord nehmen sollen. Was für eine Verschwendung von wertvollem Platz.
    Aber es ist kein wichtiger Ausschnitt meines Lebens, denn ein paar Stunden später habe ich sowieso alle Tiere in meine Spielzeugkiste gestopft und den Deckel geschlossen, weil ich wusste, dass diese Zeit vorbei ist. Kinderspiele vertragen sich nicht mit den Regeln der Erwachsenenwelt. Und wer hätte das Bettlakenschiff auch steuern sollen, während ich gerade Sex hatte.
    Sexgewalt. Verübt an meinem fremden Körper.
    Ich erinnere mich so genau an all die hässlichen kleinen Details, an den Klang seiner Stimme, die Möbel in seiner Wohnung, den abgestandenen Geruch, als wäre ich eben noch dort gewesen. Die Angst in mir ist nicht blasser geworden, und jedes Mal, wenn ich an ihn denke, gerate ich ins Straucheln. Der Halt, an den ich mich klammere, er verhält sich berechenbar: Er hält inne und lässt mich angewidert los.
    Es ist merkwürdig zu sterben, ohne danach tot zu sein. Man fühlt sich leer und verloren, man weiß nicht so richtig, wohin man gehört. Alles ist auf einmal weit entfernt, wie in einem schlechten Traum; nichts ist von Bedeutung, nichts ergibt einen vernünftigen Sinn.
    Ich weiß nicht mehr, wie es in der Zeit davor war. Ich weiß nicht mehr, wer ich einmal war. Ich habe keine Ahnung davon, wie das ist, nie vergewaltigt worden zu sein. Es ist, als hätte ich alle Erinnerungen an die Jahre davor verloren, als stünde eine Mauer zwischen den weißen und den schwarzen Tagen. Manchmal versuche ich krampfhaft mich zu erinnern, manchmal bin ich so besessen von einem ungefickten Rückblick,
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