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Splitterfasernackt

Splitterfasernackt

Titel: Splitterfasernackt
Autoren: Lilly Lindner
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schaffen alle anderen Menschen auch.
    Vielleicht wäre es trotzdem ein besserer Anfang gewesen. Ein schönerer. Ein leichterer.
    Aber dennoch erzähle ich zuallererst von dem Tag, an dem so vieles für mich aufgehört hat. Von meinem größten Geheimnis, das ich niemals verraten wollte, von dem ich in all den Jahren nicht einmal meinen Eltern erzählt habe. Und wenn es einen Gott gibt, dann verbietet er ihnen hoffentlich, dass sie meine Tür eintreten und sich gemeinsam mit mir hinsetzen und ein Gespräch führen wollen. So etwas haben wir früher schon versucht. Das hat dann entweder damit geendet, dass ich mir eine Rasierklinge in die Pulsader gerammt habe, dass meine Mutter kurzzeitig ausgezogen ist, dass ich in eine Psychoklinik gewandert bin, dass meine Mutter mit Stühlen geworfen hat, dass ich ins Kinderheim geflüchtet bin, dass meine Mutter ins Kloster wollte, dass ich eine Packung Antidepressiva mit einem Happs verspeist habe, dass meine Mutter kein Wort mehr gesprochen hat oder dass ich angefangen habe, mich mit Wänden anzufreunden. Mein Vater war währenddessen genauso, wie er immer ist: ruhig und ausgeglichen. Eine Bombe könnte direkt neben ihm in die Luft gehen, er würde einfach ganz gelassen bleiben und in aller Seelenruhe seinen schwarzen Tee mit Kardamom austrinken, um dann eine Runde mit seinem Fahrrad zu drehen. Mein Vater hat sich nie mitreißen lassen, er hat nie getobt. Wenn meine Mutter gesagt hat, sie würde mich hassen, wenn meine Mutter geschrien hat, sie wolle mich nie, nie wieder sehen, dann hat er, ohne von dem Buch aufzublicken, in dem er gerade las, zu mir gesagt: »Sie meint das nicht so.«
    Als wäre es vollkommen egal. Als wäre
ich
vollkommen egal.
    Wenn ich ihn gefragt habe, ob er mich eigentlich lieben würde, dann hat er »jaja« geantwortet, als wäre es genauso egal. Ich habe als Kind immer gedacht, mein Vater hätte keine Gefühle. Ich dachte, er könnte es, ohne mit der Wimper zu zucken, hinnehmen, wenn meine Mutter und ich auf einen Schlag einfach verschwunden wären. Mit siebzehn Jahren habe ich zum ersten Mal Emotionen in seinen Augen gesehen; ich war gerade knapp am Tod vorbeigerauscht und saß high und zugedoped von all den Überresten der Tabletten, die noch in meinem Blut umherirrten, am Küchentisch und löffelte einen Magermilchjoghurt. Etwas anderes konnte ich nicht essen, weil ich mir meinen Hals durch das Auskotzen der hundert Tabletten leicht zerfetzt hatte. Jedenfalls erzählte mein Vater mir, dass er soeben bei meinem Schulleiter gewesen sei, um ihm mitzuteilen, dass ich für das nächste halbe Jahr nicht zur Schule kommen würde.
    »Danke«, habe ich gesagt, weil mir nichts Besseres eingefallen ist. Außerdem hatte ich Halsschmerzen und konnte sowieso nur heiser krächzen.
    »Weißt du, wie schwer es für mich war, ihm zu erklären, dass meine Tochter versucht hat, sich umzubringen?«, hat mein Vater daraufhin gesagt.
    Und in seinen graublauen Augen lag in diesem Moment etwas, das ich noch nie darin gesehen hatte: Zärtlichkeit. Verzweiflung. Und ich musste heulen, so sehr hat mich das bewegt. Natürlich bin ich vorher schnell ins Bad geflüchtet. Ich habe die Tür hinter mir abgeschlossen, zweimal geprüft, ob sie auch wirklich fest verschlossen ist, und dann habe ich das Wasser ganz stark aufgedreht, um möglichst viel Krach zu machen. Anschließend habe ich mein Gesicht mit literweise kaltem Wasser gewaschen, damit ja keine roten Flecken mehr zu sehen sind. Denn wie könnte ich je zugeben, wie sehr meine Eltern mich berühren, mit jedem noch so winzigen Atemzug.
    Danach war mein Vater wieder so, wie ich ihn kannte. Er schrieb einen Bericht über das Geschehene, als wäre unsere Familie, allen voran natürlich ich, einfach nur irgendein Projekt, dessen Entwicklung so sachlich und knapp wie möglich dokumentiert werden müsste. Manchmal, wenn ich alleine war, habe ich mir seinen Lilly-Ordner geschnappt und gelesen, was da über mich drinstand. Ich habe herausgefunden, dass ich »unfähig«, »eigensinnig« und »nicht imstande für ein vernünftiges Zusammenleben mit meiner Mutter« bin. Ich habe gelesen, dass ich versucht habe, mich umzubringen, mit genauer Zeit- und Ortsangabe und so kalt dahingeschrieben, als wäre ich tatsächlich erfolgreich gewesen.
    Eine meiner Therapeutinnen hat meinen Vater schließlich darauf hingewiesen, dass es nicht sehr taktvoll sei, ständig mit einer Akte über mich bei ihr aufzukreuzen und während der Gespräche Notizen
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