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Spinnen füttern

Spinnen füttern

Titel: Spinnen füttern
Autoren: Rawi Hage
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sehen, halten sie an. Sonst nicht, denn diese Streuner essen nicht, sie machen keine Pausen. Ein Streuner fährt selten zweimal denselben Weg.
    Ich bin ein Streuner.
    Bei der Nachtschicht komme ich oft am Café Bolero vorbei. Es hat rund um die Uhr geöffnet, viele Taxifahrer machen hier Pause, sie essen und tauschen sich aus. Manchmal sitze ich einfach da und lausche ihren Geschichten und Klagen. Ihre müden Gesichter trösten mich, die Art, wie ihre Fingerknöchel sich von der Umklammerung des Lenkrads erholen, von den Türgriffen, die sie bewegen müssen, vom Kleingeld, das ihnen in die Handflächen gezählt wird. Ich bleibe ein Einzelgänger unter diesen Wagenlenkern, aber es gefällt mir, ihre Gewohnheiten zu beobachten, ihre Worte zu hören und ihren Bewegungen von Tisch zu Tisch, von Stuhl zu Stuhl zu folgen. Und weil ich mir ihre Nummern nicht merken kann, gebe ich ihnen Namen.
    Spinnen gibt es in allen Formen, Größen und Farben. Und hier, meine Damen und Herren, sehen Sie hier die schlafende Spinne! Auch Mr Green genannt, denn er nickt an jeder roten Ampel ein. Sobald sie auf Grün springt, wacht er auf. Einige Fahrer behaupten, dass er gar nicht schläft, dass er nur die Augen schließt und alles wahrnimmt, was um ihn herum geschieht; andere glauben, dass er Farbsensoren in den Augenlidern hat. Die Wahrheit aber ist, dass er aufwacht, sobald das grüne Licht auf seine Augen trifft, weil er sich wieder in seiner tropischen Heimat wähnt, in einem prächtigen Dschungel. Einmal, so wird erzählt, ist er im Café Bolero beim Essen eingeschlafen, sein Kopf hing knapp über dem Teller, doch als ihm die Wirtstochter einen grünen Salat unter die Nase schob, wachte er sofort auf. Also heißt er Mr Green.
    Und nun Applaus, meine Damen und Herren, für die Piss-Spinne, den Fahrer, der nie aus seinem Wagen steigt! Zwanzig Stunden täglich arbeitet er! Er hat einen Plan! Er möchte sich auf einer Insel zur Ruhe setzen, mit einer jungen Frau in einem schönen Haus.
    Da er nie aus seinem Wagen steigt, kann er auch nur selten duschen. Weit schlimmer aber ist, dass die Spinne in einen leeren Antifrostkanister pisst, den er immer parat hat. Er hält es für Zeitverschwendung, eine Toilette aufzusuchen. Er hat Angst, eine Meldung der Zentrale zu verpassen oder einen Kunden am Straßenrand. Eine junge Frau, die vorn einstieg, soll sofort wieder ausgestiegen sein und in den Rinnstein gekotzt haben. Ich als Kunde würde nicht einmal das Rückgeld annehmen, ich würde überhaupt nichts anfassen, was das Schwein berührt hat; mit meiner Spende würde ich den Kampf gegen die globalen Epidemien unterstützen. Bei dieser Spinne kann man sich alles holen, Typhus, die Pest, Hepatitis A, B und C, das gesamte phönizische Alphabet.
    Bei Schlägereien könnte es niemand mit der Piss-Spinne aufnehmen. Sollte er seinen Gegner am Kragen packen und an die eigene Achsel drücken, wäre der olfaktorische Angriff so brutal, dass der sofort in die Wechseljahre käme. Gefangen in einem solchen Schwitzkasten, würde der Gegner von einem Gestank verwüstet, der stärker wäre als fünfzigtausend Kreuzzügler, er würde sofort um Gnade betteln und um einen einzigen, frischen Atemzug, er würde auf die Knie stürzen und fünf Ave-Marias beten, sechs Vaterunser. Doch die Piss-Spinne ist auch ein Mann von allumfassender Bildung. Seine Wissenschaft und Kunst beim Durchleiten und Auffangen von Flüssigkeiten, der tiefe Mystizismus, der in seinem asketischen Lebensstil zum Ausdruck kommt, Ausdauer und Orientierungssinn, die alchemistischen Kenntnisse der Goldgewinnung – all das wird von Freund und Feind mit einer Mischung aus Angst und Bewunderung betrachtet. Er ist wahrlich ein Königssohn, der Mann, den ich Piss-Spinne nenne, tatsächlich entstammt er dem europäischen Hochadel, er wurde in diesen Stand erhoben, als die Fahrer begannen, ihn Ludwig  XIV . zu rufen, nach dem französischen König, der in seinem ganzen Leben kein einziges Bad genommen hat.
    Sobald das erste Tageslicht auf das Armaturenbrett des Sonnenkönigs trifft, zerfällt es in einer Staubschicht, die so dick ist, dass ein Zöllner zehn Fingerabdrücke darin anfertigen könnte. Noch ein einziges Jahr, erklärt er jeden Dezember, dann bin ich bei meiner kleinen Braut am Strand. Doch dann gibt er sich wieder mit dem Sandstrand auf seinem Armaturenbrett zufrieden, sein durchhängender Sitz riecht alt und vertraut, er bietet Schutz im Elend, einen Morast aus Gier und Dreck und
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